■ Herrn Doktor Gysis Neuerfindung der Sozialdemokratie: Seine zwölf Thesen zur SPD sind kodifizierte Texte für Kader und Fans
: Neue Kleider für die PDS?

Wenn Politiker Thesenpapiere veröffentlichen, dann empfiehlt sich nicht nur eine vordergründige Lektüre, sondern auch jene Lesart, die Paul Recocur einst „Hermeneutik des Verdachtes“ genannt hat – die Frage somit, was uns der Text zu verschweigen versucht. Eine solche Lektüre erlaubt es, auch in Texten, in denen vordergründig nichts „falsch“ in einem strengen Sinn ist, jene Irrtümer, Widersprüche oder Dilemmata aufzuspüren, die eine buchstäbliche Exegese im Dunkeln ließe. Gregor Gysi hat jetzt einen Text geschrieben, der sich für eine solche Methode gleichsam aufdrängt.

In zwölf Thesen versucht der Fraktionschef der PDS „eine Politik des modernen Sozialismus“ zu entwerfen. „Gerechtigkeit ist modern“, ist das Papier überschrieben, und es versteht sich als „eine notwendige Antwort auf Gerhard Schröder und Tony Blair“ – auf jenes inhaltlich dünne Programmpapier, das vor allem in der Bundesrepublik, Frankreich und Österreich für einige Aufregung sorgte. In dem sagen Blair und Schröder den ohnehin längst brüchigen Gewissheiten ihrer Parteien den Kampf an, markieren mit ein paar Catch-Wörtern (Steuern runter, Budgets ausgleichen ...) den Anschluss an die Mythen des Zeitalters und machen ansonsten wenig Anstalten, Ideen für sozialdemokratische Gestaltung in der Ära der Globalisierung zu skizzieren.

Eine mögliche Deutung dieses Vorganges lautet nun: Sie räumen das Feld, das bis dato der angestammte Ort der Sozialdemokratie war. In diesen versucht jetzt Gregor Gysi vorzustoßen. Paradoxerweise indem er die Historie der Nachkriegssozialdemokratie gegen ihre Erben verteidigt. Die Kritik am Etatismus der „alten Sozialdemokratie“ ist längst, wie die Briten sagen würden, zur common currency geworden, für Gysi dennoch aber „ahistorisch und ungerecht“. Er will vom alten „fordistischen Wohlfahrtsstaat“ lernen. Dieser sei eine große Erfolgsstory gewesen. „Nicht alle, aber auch nicht wenige Träume der Sozialdemokratie gingen in Erfüllung.“ Zwar sei das alte Modell an seine Grenze gestoßen – die, wie Gysi richtig sieht, „in hohem Maße die Folgen seines Erfolges“ gewesen waren – ließe sich demnach auch nicht einfach kopieren. Doch wie der Ort des fordistischen Wohlfahrtsregimes der regulierte Nationalstaat war, so müsse der des „postfordistischen“ die transnational regulierte Weltökonomie sein. Da transnationale Regulierung aber anders funktioniert als gewohnte nationalstaatliche Regulierungen, nämlich auf Basis vielfach vermittelter Aushandlungsmechanismen internationaler Organisationen, nationaler Regierungen und Nichtregierungsorganisationen, gilt es freilich, den Konsens für eine solche „Globalreform“ zuerst im Rahmen des Nationalstaates zu erkämpfen. So weit, grob verkürzt, Gysis Thesen.

Nun führen Texte wie diese immer auch eine zweite Existenz. Sie sind in einem gewissen Sinn kodifizierte Texte, die nach außen (gegenüber den Wählern, gegenüber der Konkurrenz) und nach innen (gegenüber den Parteiaktivisten) Signale versenden. Das Blair/Schröder-Papier ist da eindeutig: Es verkündet gegenüber der Wählerschaft, ihre Parteien seien „neu“, ja in einem Prozess der permanenten Er-Neuerung und damit „auf der Höhe der Zeit“. Es vermittelt gegenüber dem Parteiaktiv, dass es mit den Gewohnheiten nunmehr zu Ende geht. Paradoxerweise ähnelt das Gysi-Papier dem Pamphlet der Blairisten-Schröderisten in dieser Hinsicht, obwohl es sich als „notwendige Antwort“ auf dieses tarnt. Auch Gysi möchte mit seinem Papier den Kadern und Anhängern seiner Partei signalisieren, dass die PDS das Erbe der klassischen Sozialdemokratie des „ersten Revisionismus“ anzutreten gedenke und sich damit von den Traditionen der nichtsozialdemokratischen, „bolschewistischen“ Linken – für die PDS mehr als fundamental – verabschieden will.

Die Frage ist nicht, ob das gut oder schlecht ist, sondern, ob ein solches Unternehmen erfolgversprechend ist. Auf diese Frage gibt Gysi keine Antwort. Skepsis ist jedenfalls angebracht. Und es gibt in Gysis Papier eine Stelle, die diese Skepsis zusätzlich nährt. Um den Konsens für die neuen Reregulierungen des entgrenzten Kapitalismus zu organisieren, bedürfe es, so Gysi, „eines neuen Gesellschaftsvertrages“. Nun ist ein so verstandener „Gesellschaftsvertrag“ eine allgemein anerkannte Verständigung eines Gemeinwesens über die Grundlagen und Ziele seiner Existenz. Er wird aber nicht einfach „ausverhandelt“. Er war, nimmt man die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts als Lehre, die Folge eines „Waffenstillstandes“ zwischen den Klassen, der über die Jahre hinweg zu politischen Prinzipien, Traditionen und Institutionen geronnen ist. Dieser Common Sense konnte durchgesetzt werden, weil die von Gysi so gelobte keynesianische Sozialdemokratie potentiell überall in Westeuropa in der Lage war, die parlamentarische Mehrheit zu erobern, weil ihre Politik dem Erfahrungshorizont breiter Bevölkerungsschichten entsprach. Denn der ungezügeltete Kapitalismus war – ein Ergebnis der Vorkriegsdepression, die direkt in Faschismus und Krieg führte – allgemein delegitimiert.

Diese Zeit ist aus vielerlei Gründen vorbei. Es scheint, dass die Mythen des Neoliberalismus sich tief in den Alltagsverstand weiter Kreise hinabgesenkt haben. Ich fürchte, dass es „den Massen“ durchaus einsichtig scheint, dass Budgets ausgeglichen sein sollen, Steuern sinken sollen, der Staat sich aus der Sphäre der Ökonomie heraushalten soll. Wer daran etwas ändern will, muss mehr tun als „richtige“ Vorschläge machen und ansonsten einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ fordern: Er muss sagen, wie das gesellschaftliche Kräfteverhältnis verändert werden soll.

Gregor Gysi gibt auf diese Frage keine Antwort, wohl weil er auch keine hat. Die Prinzipien der Sozialdemokratie haben in den Jahren nach 1945 tiefe Spuren in unseren Gesellschaften hinterlassen, weil die SPD an Regierungen beteiligt war oder christdemokratische Parteien eine Politik auf Grundlage des „sozialdemokratischen Konsenses“ (Ralf Dahrendorf) betrieben. Diese Prinzipien versucht Gysi einfach für seine Partei zu reklamieren – für die PDS also, die wohl wenig Grund zur Hoffnung hat, jemals deutlich mehr als fünf Prozent der Wähler bundesweit zu mobilisieren.

Gregor Gysis Versuch ist sympathisch – erfolgversprechend ist er trotzdem nicht. Der Charme sozialdemokratischer Politik liegt ja gerade darin, dass sie mehrheitsfähig ist. Sozialdemokratische Politik wird demnach von der Sozialdemokratie gemacht oder sie wird nicht gemacht. Wenn eine Kleinpartei versucht, sozialdemokratische Massenpartei zu spielen, dann ist das, so scheint mir, eher Teil des Problems denn Teil der Lösung. Robert Misik

Gysis Signal: Die PDS möge sich vom Bolschewismus verabschiedenDie Kleinpartei PDS versucht demokratische Massenpartei zu spielen