Struck hat die Latte zu hoch gelegt

■  Mit seinem radikalen Steuervorschlag hat SPD-Fraktionschef Peter Struck die Koalition in einen riesigen Finanzstreit gestürzt. Entsetzte Kollegen fragen sich: Warum macht er das?

Berlin (taz) – Daß Politiker bei Journalisten recherchieren, kommt nicht allzu häufig vor. Doch der Bundestagsabgeordnete war ratlos. So griff er zum Hörer und rief beim Spiegel an: „Was habt ihr mit dem armen Mann gemacht?“ Der Anrufer konnte nicht glauben, was er am vorvergangenen Montag lesen mußte. Welcher Teufel hatte den Vorsitzenden der SPD-Fraktion nur geritten?

Eine Steuerreform, „die ihren Namen auch verdient“, hatte Peter Struck im Spiegel gefordert, und auch gleich gesagt, wie diese aussehen solle: Wir brauchen ein ganz einfaches Steuersystem mit höchstens drei Steuersätzen: 15, 25 und 35 Prozent – und dann Schluss.“ Die Macher des Montagsmagazins frohlockten: „Der Vorschlag ist sensationell“, in der Koalition sorgte die schlagzeilenträchtige Äußerungen für Entsetzen. „Habt ihr das Interview nachts geführt? Habt ihr ihn unter Alkohol gesetzt?“, wollte der Anrufer wissen. Nein, kam die Antwort, es war nachmittags und allenfalls ein bisschen warm. Seit jenem Montag vor zehn Tagen zankt sich die SPD mit zunehmender Erbitterung um Strucks Vorschlag.Vor allem aber treibt rote wie grüne Politiker ein Rätsel um: Was hat Peter Struck bezweckt?

„Würde mich freuen, wenn ich das morgen in der taz lesen könnte“, kontert einer in der SPD-Fraktion die Frage. „Ich bin ratlos“, sagt auch Klaus Müller, Steuerexperte in der Grünen-Fraktion. „Ich habe ungelogen mit 12, 13, 14 Kollegen darüber gesprochen. Es gibt niemanden, der eine wirklich befriedigende Erklärung hat.“

Der Ärger der Koalitionäre speist sich aus zwei Quellen. SPD-Abgeordnete erregt in erster Linie der Bruch mit sozialdemokratischen Grundwerten. Viele von ihnen erliegen bis heute dem Charme des Robin-Hood-Prinzips. „Von den Reichen nehmen, um den Armen zu geben“ soll nach ihrem Willen auch für die Steuerpolitik gelten. Struck erklärt in einem Stern-Interview diese Position für veraltet, mit der modernen Gesellschaft von heute komme man da nicht weiter. Die Bündnisgrünen stehen Strucks Steuermodell inhaltlich sehr viel näher. Sie verärgert Zeitpunkt und Art der Debatte. In ihren Augen hat der Vorsitzende der großen Regierungsfraktion alle Anstrengungen der Koalition zunichte gemacht, Sparpaket und Steuerreform in der beschlossenen Form als Erfolg zu verkaufen. „Damit braucht man den Wählern jetzt gar nicht mehr kommen“, seufzt etwa Klaus Müller. Wenn in der Öffentlichkeit nur noch ein Radikalschlag wie Strucks Drei-Stufen-Besteuerung als Reform gilt, haben differenzierte Modelle keine Chance mehr. „Die Latte wird irrsinnig hoch gelegt“, sagt Müller, „die muß jeder reißen.“

Womöglich hat Struck sich in das Schlamassel geritten, weil er eigentlich ein solches verhindern wollte. Tagelang hatte der Brandbrief des saarländischen SPD-Ministerpräsidenten Reinhard Klimmt die Öffentlichkeit beschäftigt. Seine Warnung vor einem Ausverkauf der sozialdemokratischen Seele versetzte die Partei in Wallung. Von diesem Thema abzulenken könnte der unmittelbarste Zweck von Strucks Manöver gewesen sein.

Anlass zu Spekulationen bietet auch die Rolle Gerhard Schröders. Gut denkbar, mutmaßt ein Berliner Abgeordneter, dass der Bundeskanzler vor seinem Abflug in den Urlaub Peter Struck ermunterte, ein wenig mutiger zu sein. Das Kalkül dahinter: Die SPD zeigt den Wählern, wo's unter Schröder hingehen soll, selbst wenn die Vorschläge nicht sofort umzusetzen sind. Offiziell hat der Bundeskanzler sich ebenso wie der Finanzminister von Strucks Einfall distanziert. Einen „Kotau“ habe Struck am Montagabend vor dem Kanzleramtschef Frank Walter Steinmeier machen müssen, erzählen manche.

Ließ Schröder ihn abstrafen? „Wenn Gerhard Schröder mir etwas mitteilen will, macht er das schon selbst“, erklärte Struck gestern gequält. „Es ist auch nicht so, als wenn der Chef des Kanzleramtes gegenüber dem SPD-Fraktionsvorsitzenden weisungsbefugt wäre.“ Solche Hinweise auf korrekte Umgangsformen sind von dem SPD-Mann öfters zu hören. Er selbst hat in letzter Zeit gegen formale Zuständigkeiten wiederholt verstoßen. Darin liegt wohl auch der Grund, warum er für seine Vorschlag so schnell und so zahlreich Hiebe einstecken musste: Für Steuerpolitik ist in der SPD-Fraktion ein anderer zuständig. Joachim Poß, als Steuerexperte einer der Stellvertreter Strucks, hat als erster seinen Chef kritisiert. Vor zehn Tagen prangerte er die unverantwortlichen Kosten der Drei-Stufen-Besteuerung an, gestern nannte er die ganze Diskussion „überflüssig wie einen Kropf“.

Womöglich wollte Struck die Debatte selbst bestimmen – und hat sich das falsche Thema ausgesucht. Patrik Schwarz