Zwischen den Rillen
: Cappuccino Breakjazz

■ Avantgarde für den Sommer: Carl Craig und Roni Size mit neuesten Projekten

Vor zwei Jahren entwickelte die Londoner Plattenfirma Talkin' Loud ein neues Format für popmusikalische Sommerereignisse: das Erwachsenen-Electronic-Geschmacks-Breakjazz-Album. Roni Size und sein Projekt Reprazent waren die Ersten, die mit „New Forms“ eine solche Platte herausbrachten, letztes Jahr folgten 4 Hero mit „Two Pages“ und dieses Jahr ist es Carl Craig, sein Innerzone Orchestra und „Programmed“.

Die wichtigsten Kriterien sind genauso schnell aufgezählt wie schwer zu erfüllen. Der Leiter des Projekts muss einen Namen haben, der in allen Lagern des Rest-Undergrounds geschätzt wird. Die Musik muss eine Mischung aus handgespielten und programmierten Elementen aufweisen. Sie muss als Konzert etwas hermachen, bei Live-Auftritten sollte auf der Bühne etwas passieren, und – das Ganze muss musikalische Substanz haben (stilistisch vielseitig, geschmackvoll, „gut gemacht“). Außerdem sollte man natürlich drüber reden können.

All dies trifft auf „Programmed“ zu. Carl Craig, der Begründer des und Kopf hinter dem Innerzone Orchestra, ist legendär wie kaum ein anderer Produzent aus Detroit. Er hat schon unter zahllosen Pseudonymen in allen möglichen Stilen Platten herausgebracht, und fast jede hat bei den Anhängern des jeweils adressierten Lagers die Augen und Ohren zum Leuchten gebracht.

Vor allem eine Platte hat seinen Ruhm begründet: „Bug In The Bass Bin“ von 1992. Als erster fusionierte Craig hier Technosounds und Jazz-Rhythmen, genau diese Platte, auf 45 Umdrehungen statt 33 abgespielt, war einer der Gründe, warum Produzenten wie 4 Hero den britischen Breakbeats den Schliff gaben, der dann zu Drum 'n' Bass führte (mit einer Neuaufnahme dieses Stücks beschließt das Innerzone Orchestra auch seine diesjährige Platte). Ohne „Bug In The Bass Bin“ gäbe es das ganze Orchestra nicht, gründete Craig doch nach den euphorischen Reaktion darauf ein Jazz-Trio, das der Kern der Gruppe ist, die heute als Innerzone Orchestra firmiert. Sein Detroiter Techno-Produzentenkumpel Richie Hawtin alias Plastikman gehört dazu und neben anderen auch Francisco Moira, ein ehemaliger Drummer des Sun Ra Arkestra – auf das sich Craig auch beruft, wenn es um die musikalische Richtung von „Programmed“ geht.

Das ist dann auch der einzige Fehler der Platte: Sie kann ihre Ankündigungen musikalisch nicht einlösen. Zu Anfang, im Intro zur Platte, grüßt ein Anrufbeantworter. Das hat mit dem Sound der Zukunft ungefähr so viel zu tun wie eine Waschmachine, in deren repetitivem Rauschen schon so mancher die Loops elektronischer Musik vorweggenommen sah. Mit größerer Berechtigung könnte man Retro sprechen. Craig nähert sich den angeblich futuristischen Sounds nämlich nicht zuerst als Musiker, sondern als Historiker. Als solcher recherchiert er bestimmten Klängen hinterher. Mit den Möglichkeiten des Orchesters im Rücken baut er sie dann nach.

Das erinnert mitunter an Blaxploitation-Soundtracks oder an Afro-Funk. Manchmal hört es sich an, als sei die Miles-Davis-Band von 1973 aus dem Olymp herabgestiegen, um, mit den Möglichkeiten von Harddisc-Recording gesegnet, noch einmal ein Stück aufzunehmen. Nur nach Sun Ra hört es sich leider nie an. Wenn auf „Programmed“ in die Tasten gegriffen wird, steht eher Keith Jarrett Pate (der hat immerhin einmal für Miles Davis die Keyboards gespielt). Und wenn das Innerzone Orchestra die Stylistics mit ihrem Song „People Make The World Go Round“ covert, hört sich das zwar an, als sei ein findiger Toningenieur mit dem digitalen Lappen über die verstaubten Originalmasterbänder gegangen, es bleibt aber bloß wunderbarer Vocal-Group-Pop der Siebziger, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Carl Craig hält bislang die Pole-Position für das neue Sommer-Album-Format. Aber eben jener Roni Size, der das Modell von 1997 entwarf, ist auch dieses Jahr im Rennen und würde Carl Craig seinen Spitzenplatz wahrscheinlich gerne streitig machen. Denn mit „Breakbeat Era“ hat er eine Platte am Start, die ähnlich operiert, und ein Projekt, das genauso heißt.

Obwohl Breakbeat Era eine interessante Idee zugrunde liegt, wird Roni Size wohl zweiter Sieger bleiben. Im Grunde wollen Size und die Sängerin Leonie Laws Pop machen. Nicht Pop im Sinne von Everything But The Girl oder Portishead, die den Popsong mit Drum-'n'-Bass-Versatzstücken erweitern, Size und Laws nehmen relativ raue Drum-'n'-Bass-Tracks und verweben sie mit einer Gesangslinie. Das hat so noch niemand gemacht.

Wenn es Stimmen im Drum 'n' Bass gab, dann waren es entweder MCs, die auf Partys die Tänzer anfeuern, oder sphärische Frauenstimmen, die möglichst gar nichts sagten, dem Ganzen bloß eine neue Klangfarbe hinzufügten. Breakbeat Era machen weder das eine noch das andere. Geschmackssicher und jenseits eindeutiger Zuordnung fügen sich die Beats und die leicht angequengelte Stimme zusammen. Das perfekte Erwachsenen-Breakjazz-Sommer-Album auch dies. Tobias Rapp

Innerzone Orchestra: „Programmed“ (Talkin' Loud/Motor) Breakbeat Era: „Breakbeat Era“ (XL-Recordings/Intercord)