Nacht auf der Oranienburger Straße

■ Eine Fotoreportage vom Max Thielmann

Immer wieder am Wochenende: Schminke rauf und ab ins Nachtleben. Während der Rest der Stadt ins Sommerloch kippt, beginnt auf dem eitlen Planeten Mitte die Nacht in der Oranienburger Straße.

621 vom Bezirksamt gezählte Gaststätten locken derzeit nach Mitte. 1993 waren es laut Statistischem Landesamt nur 259 Schankeinrichtungen und Restaurants – auch das schon ein stattliches Kneipenwachstum angesichts des bescheidenen, nischenhaften Treibens, das diese marode Ecke der sozialistischen Hauptstadt zu DDR-Zeiten charakterisierte.

Ärmliche Quartiere und ein toter Bahnhof. Die U-Bahnlinie 6 rollte von West-Berlin ohne anzuhalten durch die Station „Oranienburger Tor“ am Ende der Oranienburger Straße, nächster Halt erst wieder Reinickendorfer Straße im sicheren Westbezirk Wedding.

Dunkel war es auf der Oranienburger Straße bis in die Nach-Wendezeit, Straßenlaternen waren Mangelware. Wer aus dem Westen kam, war froh, wenn er den Eingang zur besetzten Künstlerbarracke Tacheles im Dunkeln überhaupt fand. Im Keller rummsten erste Technoparties, im zweiten Stock zeigte jemand experimentelle Videofilme. Gegenüber winkten noch keine Cheeseburger oder japanischen Sushi. Dafür wurde Schweißkunst fabriziert.

Heute spucken Touristenbusse ihre Ladungen vor dem Tacheles aus, der Verkehr wälzt sich im Schritttempo an den langbeinigen Prostituierten des Straßenstrichs zwischem Hackeschem Markt und Friedrichstraße vorbei.

Die U-Bahnstation „Oranienburger Tor“ verheißt inzwischen quirliges Getümmel vor den Bars, ein Flirt lauert vor jeder grell sanierten Fassade. Der August ist lau, der Sommer reif, die Blicke hungrig. Zum Geklacker der Eiswürfel im Caipiriña-Glas treffen die Protagonisten des „neuen Berlin“ selbstzufrieden auf Galerienpublikum und Reisegruppe. Die Poesie des Ortes ist heute nicht mehr im blätternden Charme vernachlässigten Stadtraumes versteckt, sondern taumelt auf dem Boulevard zwischen hedonistischer Feier und romantischer Suche.

Erst am Sonntag morgen ist es wieder ruhig auf der Oranienburger Straße. Im „Obst und Gemüse“ wird das erste Bier genossen – und nicht mehr hastig geschüttet. Kirsten Küppers