Veränderung ja bitte, aber...

betr.: „Ende der Veranstaltung“, „Der Schule ihre Würde zurückgeben“, taz vom 5. 8. 99

Autor Dettling beschreibt die Kasernenkultur der Schule und behauptet: „Alles ändert sich – nur die Schule bleibt gleich.“ [...] Unter des Autors Würde scheint es zu sein, sich auch nur mit irgendeinem Ergebnis der 30 Jahre andauernden Schulreform zu beschäftigen, siehe zum Beispiel die Grundschulreform. Sicher ist richtig, dass Schüler/innen auf Teilgebieten mehr Spezialwissen haben als ihre Lehrer/innen, das war auch in den 50er Jahren schon so, der Austausch wirkt produktiv. Viel Wissen lässt sich heute auch aus den neuen Medien herausziehen. Toll, wenn die Kids diese Möglichkeiten nutzen. Leider ignoriert der Autor die Ergebnisse der TIMMS- und Nachfolgestudien sowie die andauernden Klagen der Betriebe über die mangelhaften Kenntnisse der Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen usw. Strukturiertes Lernen bietet eben auch heute weltweit die gescholtene Schule bestens an. Wohin die geforderte Entstaatlichung von Schule führt, zeigen uns die USA und andere westliche Staaten – übrigens sind dort die meisten privaten Schulen kasernenmäßig organisierte Paukschulen im klassischen Sinne, aber natürlich mit Internet. Die Bürgergesellschaft vor Ort: Wir haben sie zuhauf in Berlin, die interessierten Eltern mit dem berechtigterweise hohen und individuellen Bildungsanspruch. Sie schicken ihre Kinder eben nicht zum Teleunterricht oder zu Hebammen im sokratischen Verständnis, sondern die Kinder werden schon nach der vierten Grundschulklasse in paukhafte, grundständige Gymnasien mit zum Beispiel Fremdsprache Latein geschickt, um unter zeitlichem Druck in gepresster Kindheit, Pubertät usw. schon nach zwölf Jahren das Abitur abzulegen. Und warum tun das die gebildeten Eltern? Weil sie vom Prinzip und Erfolg dieser meist verstaubten Gymnasien überzeugt sind. Nun wird so getan, als ob ein/e mit einjährigem Fristvertrag angestellte/r Lehrer/in besonders günstig für Kinder, Eltern und Gesellschaft sei – wir kennen sie seit Jahren. Kinder, Eltern, Schulleitungen und sie selbst nehmen einander gegenseitig wenig ernst, woher soll die Arbeitsmotivation kommen?

Im zweiten Artikel lobt Herr Füller die Ferdinand-Freiligrath-Schule und das Angebot von „Dritten“, also Handwerkern und Künstlern. Dem stimme ich zu. Nur verschweigt der Autor, dass diese Schule, eine Hauptschule, bekanntlich in Kreuzberg beheimatet ist und dass über 90 Prozent der Eltern nie freiwillig ihre Kinder an einer solchen Schule anmelden würden. Eben weil es eine Hauptschule ist. „Der Schule die Würde zurückgeben“? Jawohl, Herr Professor Lenzen von der Freien Universität, ich teile ihre Auffassung bezogen auf die Freiligrath-Hauptschule. Kann dieses Modell dem Elend der Schule den Garaus machen? Ich fürchte und hoffe, dass die große Mehrzahl der Berliner Schulen und Eltern dieses Modell nicht auf die eigene Schule übertragen will und wird. Veränderung ja bitte, aber die Diskussion sollte sich nicht nur an unserem freundlich/anarchistischen Reinhard Kahl orientieren. Herfried Tietge, seit 21 Jahren Lehrer in Berlin-Kreuzberg