Im Land der verlassenen Häuser

Einen ganzen Sommer lang schrieb die Schriftstellerin E. Annie Proulx über das Armenhaus Kanadas, nannte es Tundra und Ödland: Auf den Spuren ihres Neufundlandromans „Schiffsmeldungen“    ■ mit Franz Lerchenmüller

Ganz im Norden werden Menschen rar. Wo an blauen, wolkenlosen Sommertagen keine Wäsche auf der Leine flattert, wohnen keine Leute mehr. Und die Zahl toter Häuser nimmt zu, je weiter man auf dem sogenannten Viking Trail, der langen, geraden Straße 430, in den Norden Neufundlands vordringt. Es sind nicht nur wacklige Hütten. Auch gepflegte Ein- und Zweifamilienhäuser stehen leer, mit Rasen im Vorgarten. Manchmal wurde er lange nicht gemäht.

Zur Linken erstreckt sich die schwarze, flache Felsküste, überm Meer der blaue Schemen Labrador. Rechts liegen Moore, in denen bakeapples, gelbe Moltebeeren, leuchten und weißes Wollgras sich wiegt.

Die Kette der Long Range Mountains, der ältesten Berge der Welt, bleibt allmählich zurück. In den kleinen Dörfern, die hier Namen haben wie Blue Cove oder Eddie's Cove, ist niemand unterwegs. Herrscht Stille. „They're all gone“, sagt die alte Frau im winzigen Supermarkt von Nameless Cove, die auftaucht, lange nachdem die Ladentür geschellt hat. „Nearly all of them.“

Fünf Jahrhunderte lang lebten die Menschen hier oben von der See, vom Fischfang. Dann war Schluss, alles abgeräumt, leer die Grand Banks, die besten Fischgründe der Welt. Als die Regierung 1992 ein Fangverbot für Kabeljau verkündete, verloren 30.000 Fischer über Nacht ihre Arbeit. Im letzten Jahr liefen die letzten Unterstützungsprogramme aus. Die Proteste blieben leise, die Mehrheit der Bevölkerung war es leid, einen Berufsstand künstlich am Leben zu erhalten, der keine Zukunft mehr hat. Jetzt müssen noch mehr Menschen auf dem kanadischen Festland einen Job suchen. Noch mehr leere Häuser bleiben zurück.

Dies ist der Landstrich, in dem der vielgerühmte Roman „Schiffsmeldungen“ der US-Amerikanerin E. Annie Proulx spielt, die Geschichte des Versagers Quoyle, der im Land seiner Vorfahren eine neue Heimat findet: „900 Kilometer dicht eingenebelte Küste. Boote, die sich durch Meerengen zwischen eisverkrusteten Klippen fädelten. Tundra und Ödland, ein Landstrich voll verkümmerter Fichten, welche die Menschen fällten und wegzerrten“: Nordneufundland, Kanada.

„Eines Morgens vor sechs Jahren“, erzählt Bella Hodge, die Besitzerin der Valhalla Lodge in Gunner's Cove an der Ostküste, „klopfte Annie Proulx an die Tür, nahm ein Zimmer, packte ihren Laptop aus und schrieb.“ Blieb und schrieb den ganzen Sommer lang.

Verständlich. Von hier oben hatte sie damals den gleichen prächtigen Ausblick auf die tiefblaue See wie heute. Zwar planschen dort draußen im Moment keine Wale herum. Aber in ein paar hundert Meter Entfernung driften drei Eisberge langsam nach Süden. Schimmern in der Sonne wie zerknitterte Schiffchen aus Pergament.

Ausdrücklich bedankt sich E. Annie Proulx in ihrem Buch bei Bella Hodge. Fairerweise, denn die ist die heimliche Mitautorin der „Schiffsmeldungen“. Sie erzählte der Schriftstellerin die meisten der skurrilen Geschichten, neben ihr streifte sie durch die Patchworklandschaft der nördlichen Halbinsel, dieses Flickwerk aus Wasserpfützen, felsigen Kuppen und morastigen Niederungen. Und mit ihr fuhr sie nach St. Anthony, dem Vorbild für das Romanstädtchen Killick-Claw.

Ein struktur- und gesichtsloser kleiner Ort mit 3.500 Einwohnern. Ein Hafen, ein paar Fischfabriken, ein nüchternes Einkaufszentrum. Wichtigstes Gebäude ist das Krankenhaus, in das Patienten aus Labrador gar mit dem Flugzeug anreisen.

Gegründet hat es Dr. Wilfred Grenfell im Jahr 1900. Der Missionar und Küstenarzt, der jahrelang mit einem Hospitalschiff von Ort zu Ort gefahren war, später Fischereikooperativen aufbaute und Läden, in denen Kunsthandwerk der Inuit verkauft wurde, und der als Erster vergebens versuchte, skandinavische Rentiere in Neufundland anzusiedeln, wird immer noch als Held verehrt: Sein Haus ist vollgestopft mit Ehrenplaketten, Briefen und Geschenken geheilter Kranker, ein modernes „Interpretation Center“ zeichnet seine Lebensgeschichte detailliert nach. Der Northern Pen, das Vorbild für die Zeitung Gammy Bird, in dem Quoyle eine Anstellung fand, ist in einen neuen Flachbau gezogen. In der aktuellen Ausgabe findet sich ein Beitrag über eine wieder auflebende Tradition, das Gerben von Robbenfellen in Handarbeit.

Sechs bis acht Millionen Seehunde tummeln sich in den Küstengewässern und dezimieren die von den internationalen Fangflotten fast ausgerotteten Fischbestände weiter. Eine geringe Quote wird jedes Jahr zum Abschuss freigegeben. An manchen Stränden trocknen Häute im Wind, an Schnüren aufgespannt auf hölzernen Rahmen, ovale Trommelfelle mit zwei kleinen Löchern.

Alle Ideen sind hier oben willkommen, die ein wenig Geld und Arbeit verheißen. Sicher, im Süden, rund um die Hauptstadt St. John's, da sind bereits Anzeichen einer wirtschaftlichen Besserung zu erkennen: Das Öl der Hibernia-Plattform sprudelt prächtig, die dafür entwickelte Fördertechnik ist international gefragt, und eine muntere Softwarebranche macht mittlerweile weltweit von sich reden. Neufundland, das einstige Armenhaus Kanadas, ist dabei, sich zu sanieren. Doch bis der Fortschritt ganz im Norden eintrifft, könnte der Landstrich verwaist sein.

Der Northern Pen hält sich tapfer, erscheint nach wie vor jeden Montag, freilich ohne Schiffsmeldungen: Zu wenig Schiffe im Hafen. Allan Bock, der Chefredakteur, ist noch nicht lang genug im Amt: E. Annie Proulx hat er nicht persönlich kennengelernt. Er weiß aber den letzten Klatsch: Das Buch wird verfilmt, mit John Travolta in der Hauptrolle. Nicht hier oben freilich, wo es eigentlich hingehört, sondern in Rocky Harbour. Die Szenerie dort schien den Hollywood-Leuten irgendwie gefälliger. Malerischer.

Sonne, viel Sonne am nächsten Tag. Und ein Abstecher nach Conch. „Ein abwechslungsreiches Wochenende in Conch“ – das versprechen Radiomoderatoren ihren Hörern als Hauptgewinn, wenn sie mal besonders komisch sein wollen. Conch ist jenseits von allem. Am Rand. Ein sterbender Ort. Heute aber herrscht in dem kleinen Hafen durchaus reges Leben. Boote laufen ein, bis zum Dollbord gefüllt mit fingerlangen Fischchen: Jetzt kommen die Caplins, die Lodden ans Ufer, um zu laichen. So groß waren die Schwärme einst, dass die Gärten damit gedüngt wurden. Heute stehen japanische Experten in den Fischhallen und schneiden die Fische auf. Der Rogen gilt in Fernost als Delikatesse. Doch nur solange er nicht ganz reif ist, wird der Fang aufgekauft. Ein paar Tage. Dann ist es wieder vorbei mit der Beschäftigung.

„Die haben die Küstenfischer zu 'ner Art Wanderarbeiter gemacht. Wir ziehen von einer Ernte zur nächsten, pflücken, was sie uns sagen. Nehmen, was sie uns bezahlen“, klagt Jack Buggit im Roman. „Na und?“, knurrt Cyril Blake im wirklichen Leben. „Was willst du machen? Immer nur weiterjammern?“ Cyril, um die 40, mit wachen blauen Augen und einem goldenen Ring im Ohr, ist Fischer in Straitsview. Er kauft Lizenzen für Makrele, Hering, Steinbutt, Shrimps und Caplin, was immer die Regierung gerade freigibt, und betreibt mit drei Freunden zusammen ein Boot. Sie sind wenig zuhause, fischen an der ganzen Küste, „eine Art Wanderarbeiter eben“. Kabeljau, der einstige Brotfisch Neufundlands, bleibt verboten, aber die Arbeit lohnt sich trotzdem: Zwischen 50.000 und 60.000 Dollar verdient er im Jahr. „Wenn höchstens 10.000 Fischer übrig blieben – so viele könnte die See ernähren.“

Andere setzen auf den Tourismus. Barb Genge, selbstbewusste Chefin acht bärbeißiger Pfadfinder, betreibt die Tuckamore Lodge in Main Brook, von der betuchte Besucher zum Lachsfischen losziehen und auf Bären-, Elch- und Karibujagd gehen: „Wir bringen unsere Gäste aber auch mit dem Boot zu den Wasservögeln und den Walen hinaus. Oder wir machen Ausflüge nach L'Anse aux Meadows“.

Vor tausend Jahren sind dort, ganz an der Nordspitze, Wikinger an Land gegangen, die ersten Europäer in der Neuen Welt. Sie bauten Hütten aus Torf, legten eine Schmiede an – und verließen, vermutlich nach Querelen mit den eingeborenen Indianern, den Ort nach einigen Jahren wieder. Ihr „Vinland“ überlebte nur in der Sage – bis der Norweger Helge Ingstad 1960 die Überreste der alten Siedlung freibuddelte. Heute zeigt in den nachgebauten Torfhäusern der Schmied, wie man Nägel härtet, und die Sklavin im härenen Gewand backt auf offenem Feuer Fladenbrot und weiß einfach alles über nordische Kultur – schließlich besucht sie extra Fortbildungskurse dafür. Sechs Wikinger arbeiten im Sommer vor Ort. Sechs begehrte Arbeitsplätze.

Beeindruckender als solche Attraktionen aber bleibt die wilde Schönheit des Landes und die Herzlichkeit der Neufundländer: „Mag sein, wir wirken ein bisschen eigenbrötlerisch“, sagt Cyril Blake bei Elchsteak und Fish'n brewies, Zwieback mit Speck und Stockfisch. „Aber wir sind keine Karikaturen wie in diesem Buch. Ich glaube nicht, dass eine Schriftstellerin aus Vermont uns versteht.“

Die „Schiffsmeldungen“ mag in Neufundland eigentlich niemand so recht. „Es ist das beste Buch, das jemand von außerhalb über uns schreiben konnte“, sagt Stan Cook, smarter junger Reiseunternehmer, und das Kompliment klingt durchaus zwiespältig. Die Sprache erscheint den meisten zu expressionistisch, zwischen den Zeilen lesen sie herablassende Ironie, die Figuren sind in ihren Augen bloß Pappkameraden. „Sehr bald entdeckt man Annie Proulxs tiefe Zuneigung zum ,Newfie-Dictionary‘ “, sagt maliziös Helen Fogwill Porter, eine der großen alten Damen der neufundländischen Literatur. „Manche Wendungen würden wir so nie benutzen. Richtig über eine Kultur berichten kann eben nur, wer in dieser Kultur groß geworden ist.“

Sie meint Bernice Morgan. Die Autorin aus St. John's schildert in ihren beiden Büchern „Random Passage“ und „Waiting for Time“ das nie endende Schuften, Hungern und Weitermachen in einem winzigen Fischernest von seinen Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Kabeljaumoratorium 1992. Beschreibt es einfühlsam, eindringlich und genau. „Bernice Morgan hat unsere wahre Geschichte geschrieben“, sagt Helen Porter sehr bestimmt. Und niemand in Neufundland widerspricht.

Grau und zum Greifen nah hängt am späten Abend der Himmel über dem Tickle Inn auf Cape Onion. Zwischen hier und Grönland liegt nur das Meer. Der Sturm wirft Gischt, peitscht Regen an die Fenster, heult um das hundert Jahre alte Gasthaus und lässt die Balken ächzen. Zeit für einen letzten Blick in die „Schiffsmeldungen“: „Die Küste schwarz, glitzernd wie Brocken aus Silbererz. Fast erkannte Quoyle den drohenden Himmel wieder. Als hätte er einst von diesem Landstrich geträumt, ihn später vergessen.“ Heute müssen immer mehr Neufundländer auf Kanadas Festland von ihrem Land träumen.

In nachgebauten Wikinger-Torfhäusern zeigt der Schmied, wie man Nägel härtet, und die Sklavin backt überm Feuer Fladenbrot