Geschlossene Gesellschaft

taz-Serie „Grenzstadt Berlin“ (Teil 2): Der Rückzug in die privaten Räume der „Neuen Mitte“ hat auch das Stadtbild verändert. Mit der städtischen Öffentlichkeit verschwindet aber auch die Wahrnehmung derer, die an der Privatisierung nicht teilhaben können oder wollen  ■   Von Uwe Rada

Noch zwei Ampeln, dann hat er es geschafft. Auf der Reichenberger Straße schreien sich einige Jugendliche an, zum Spaß. Lothar tippt mit dem Zeigefinger aufs Lenkrad. Die Ampel springt auf Grün. Fünf Minuten später hat er seinen Wagen in der Tiefgarage geparkt. Der Fahrstuhl bringt ihn direkt zu seinem Loft, Marke „Chelsea Top“. Mehr konnte sich Lothar nicht leisten, noch nicht. Aber immerhin – nun gehört er dazu. Lothar geht zur Bar und schenkt sich einen Martini ein. Die Schritte auf dem Parkett geben ihm das Gefühl, zu Hause zu sein. Die andern Geräusche, die von draußen, hat er längst vergessen.

So oder ähnlich sehen die Projektentwickler der Firma Realprojekt die Wohnkultur im „Neuen Berlin“. Vor allem den Lofts, großzügig ausgebauten Fabriketagen, gehört die Zukunft des Berliner Immobilienmarkts, heißt es übereinstimmend in den Marktberichten der großen Maklerhäuser. Die Firma Realprojekt liegt damit ganz im Trend. In den Paul-Lincke-Höfen, einer ehemaligen Telefonfabrik in Kreuzberg 36, entstehen derzeit auf 15.000 Quadratmetern Wohnlofts für die neuen Trendsetter. Doch nicht nur der Erfolg auf dem Immobilienmarkt hebt das Loft-Living in den Rang urbaner Pionierleistung. Es ist vor allem die Abkehr von der städtischen Wirklichkeit, die diese Wohnkultur auszeichnet und wiederum selbst hervorbringt: außen pfui und innen hui.

In der Tat ist in den Paul-Lincke-Höfen, dieser Insel der Erfolgreichen inmitten des Armutsbezirks Kreuzberg, alles auf die Innenräume orientiert. Während sich das Areal zur Reichenberger Straße oder dem Paul-Lincke-Ufer betont unspektakulär gibt, findet man im Innern der Höfe die in Neon-Licht-Installationen getauchten „paradiesischen Gärten“ der amerikanischen Land-Art-Künstlerin Martha Schwarz. In den Lofts selbst kann sich der Käufer ganz auf den eigenen Geschmack konzentrieren. Individuelle Ausstattung wird hier groß geschrieben, hat aber auch ihren Preis. Das teuerste Loft kostet 1,6 Millionen Mark. Als Grund für die scheinbar widerspruchsfreie Kompatibilität zwischen Luxus und Armut nennt Realprojekt-Sprecher Willo Göpel die veränderte Lebenskultur der Erfolgreichen. Nicht mehr um das Zur-Schau-Stellen des eigenen Wohlstandes gehe es den Wohnpionieren im „Neuen Berlin“, sondern um die Wohnkultur in den eigenen vier Wänden.

Die Wohnkultur der „Neuen Mitte“ findet man heute überall in Berlin: in Immobilienanzeigen, in denen der Raum für individuelle Ansprüche gepriesen wird, im Boom der Höfe als neue Orte urbaner Beschaulichkeit oder in introvertierten Architekturen, die dem öffentlichen Stadtraum den Rükken kehren. Man findet sie aber auch in den zahlreichen Cafés, Kneipen und Restaurants, und das nicht nur in Berlin-Mitte. Es ist der Rückzug in die vertrauten Räume, der wahlweise in den eigenen vier Wänden oder draußen, im „verlängerten Wohnzimmer“ der Stadt, angetreten wird, wie die Journalistin Claudia Wahjudi in ihrem Buch „Metroloops“ über die Berliner Kulturentwürfe geschrieben hat. Ein Rückzug in die privaten Räume einer „geschlossenen Gesellschaft“, weil man den anderen, den offenen Räumen nicht mehr traut. Die Privatheit der „Neuen Mitte“ ist, wenn man so will, das individuelle Pendant zur Privatisierung der Politik und des kommunalen Vermögens. Man konzentriert sich auf das Kerngeschäft, der Rest ist Ballast, den es abzuwerfen gilt.

Berlin-Mitte, Monbijoupark. Noch picknicken hier Mütter mit ihren Kindern auf der Liegewiese. Ein paar Meter weiter haben sich Jugendliche zum Streetball verabredet. Doch die Kultur der Privatisierung rückt auch diesem öffentlichen Raum zu Leib, der Hackesche Markt kommt näher. Am Ostrand des Monbijouparks, einen Katzensprung von den Hackeschen Höfen entfernt, werden bald die Bagger rollen. Blockrandbebauung heißt das für das Bezirksamt, für die Investoren heißt es Urbanisierung, Cafés, neues, zahlungskräftiges Publikum. Das nach dem Krieg auf dem Parkgelände errichtete Kinderbad hat bereits geschlossen. Kein Zweifel, die Privatisierung schreitet voran, und jene Orte, an denen die Stadt, wie es die Journalistin Ulrike Steglich einmal gesagt hat, „Pause macht“, werden von der Mitte an den Rand gedrängt.

Gleichwohl kann für die Krise des öffentlichen Raums nicht mehr länger nur die Bauwut der Investoren oder die Finanzknappheit der öffentlichen Hand verantwortlich gemacht werden. Es sind nicht nur die öffentlichen Räume, die nach und nach verschwinden, es ist auch das Bedürfnis eines großen Teils der Stadtbewohner nach diesen Räumen. Auch dafür ist Lothar, Single wie die meisten Pioniere des „Neuen Berlin“, ein Beispiel. Lothar macht seine Pausen im „Chelsea Top“, ansonsten ist er flexibel und hat sich die ganze Stadt zur Heimat gemacht, heute hier, morgen dort. Und wenn die eine Location „out“ ist, geht er in die nächste. Im „verlängerten Wohnzimmer“ der Stadt zappt er sich durchs Programm wie zu Hause vor dem Fernseher. Und wenn Lothar demonstrieren geht, dann auf seinen Inline-Skatern, jeden zweiten Mittwoch im Tiergarten. Den Politikern kommt Lothar wie gerufen. Wo es keine Nachfrage mehr gibt nach öffentlichen Räumen, braucht es auch kein Angebot mehr.

Mit den öffentlichen Räumen schwindet aber nicht nur der Bewegungsspielraum derer, deren Heimat nicht nur heute hier, morgen dort ist und die deshalb andere Ansprüche an den städtischen Raum haben. Sie, die weder das nötige Kleingeld noch die entsprechende Lobby haben, verschwinden auch aus der Wahrnehmung der „Neuen Mitte“. Auf der neuen Landkarte städtischer Blickbeziehungen ist für sie kein Platz mehr vorgesehen, sondern ein weißer Fleck. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ein Zufall?

Ludoviva Scarpa ist eine engagierte Frau. Lange Zeit hatte die gebürtige Italienierin zum Thema Armut und preußisches Fürsorgewesen gearbeitet. Soziales Engagement war „in“ zu Zeiten der „Gegenöffentlichkeit“. Heute beschäftigt sich die Bauhistorikerin mit anderen Themen, zum Beispiel mit dem Recht darauf, nicht mehr länger mit den sozialen Folgen der Privatisierung belästigt zu werden. Das neue „Recht auf Ungleichheit“ ist deshalb eine Forderung, für die sich Scarpa neuerdings engagiert. „Die öffentliche Absicherung“, meint Scarpa, „brachte zwar große praktische Vorteile, aber sie führte auch zu einer doppelten Enteignung: der persönlichen Verantwortung und die der direkten Gestaltung der eigenen Lebensräume.“ Persönliche Verantwortung und Gestaltung der eigenen Räume versus öffentliche Fürsorge: Für die „Outs“ ist in diesem Denken ebenso wenig Platz wie im eng werdenden Raum der Stadt, deren „Neue Mitte“, wie der Zeit-Redakteur Klaus Hartung sich freut, zum „intellektuellen Zentrum“ avanciert sei.

In der Politik rennen die Vorkämpfer für die neuen Grenzen allerdings schon lange offene Türen ein. Der für Stadtentwicklung zuständige Staatssekretär Hans Stimmann etwa hält öffentliche Grünflächen längst für unzeitgemäß. Stimmann plädiert vielmehr für kleine, aber feine „Pocket-Parks“ im Innern neuer Baublöcke für die „neuen Stadtbürger“.

Grenzziehungen, hat der Bauhistoriker Leonardo Benevolo geschrieben, seien „ein Akt, mit dem der Mensch seine Umwelt in Besitz nimmt, indem er Orte mit Gemarkungen versieht“. Eine Grenze, so Benevolo, „hat Auswirkungen auf das Territorium der einen wie der anderen Seite ihrer realen oder bloß imaginären Linie“. Der Effekt sei aber derselbe. „Die Grenze bekräftigt einen Unterschied.“ Und sie sichert, so könnte man in der Grenzstadt Berlin hinzufügen, die sich verändernden Machtverhältnisse. Da spielt es auch keine Rolle, dass der Raum, den die „Neue Mitte“ inzwischen einnimmt, in keinem Verhältnis zu ihrer statistischen Bedeutung steht. Die Botschaft jedenfalls ist eindeutig: Wer nicht dazugehört, hat draußen noch genügend Platz an den – sozialen wie räumlichen – „Neuen Rändern“ in Kreuzberg oder in den Plattenbauquartieren der Ostbezirke, an die die Reste des Städtischen gedrängt werden.

Grenzen, so scheint es, können der Privatisierung von Stadt und Städtern, diesem Katalysator für die Herausbildung einer Grenzstadt mit ihrer Topografie des „Drinnen“ und „Draußen“, nur gesetzt werden, wenn es im überschaubaren Rahmen des Lokalen zu Bündnissen für die Rückgewinnung öffentlicher Stadträume gibt.

Zum Beispiel bei der „Marie“ in Prenzlauer Berg. Hier, in der Marienburger Straße, ist in jüngster Zeit Ungewöhnliches entstanden – ein Park, ein öffentlicher Ort, geplant von den Bewohnern im Quartier, darunter auch zahlreichen Kindern. Dass die „Marie“ von den Bewohnern angenommen wurde, ist aber nicht nur dem transparenten und öffentlichen Planungsprozess geschuldet, sondern auch jener Grenzziehung von öffentlicher und privater Nutzung, die im Raum der Stadt immer mehr verschwindet. Das einzig „private“ an der Marie sind die Orte, an denen die Bewohner ihr eigenes Gemüse ziehen können.

Offene Räume wie die „Marie“ sind freilich in Berlin, zehn Jahre nach dem Mauerfall, selten geworden. An den meisten Orten der Stadt dominieren die Räume für geschlossene Gesellschaften, „Städte in der Stadt“ wie am Potsdamer Platz oder gar Orte wie die Sophie-Gips-Höfe in Mitte, in denen ein privater Eigentümer der Stadt und ihren Bewohnern Zugang gewährt. Wenn neue öffentliche Angebote wie in Prenzlauer Berg die Ausnahme blieben, wäre eine Amerikanisierung der Stadt nicht mehr aufzuhalten. Dann werden aus unsichtbaren Grenzen sichtbare, aus weichen Kanten harte Übergänge, aus unverhohlenen Botschaften Verbote. Ins Bewußtsein der „Ins“ würden die abgehängten Orte nur noch dann dringen, wenn es brennt.

Lothar zumindest ahnt das, ganz unbewusst, wenn er kurz vor der Hofeinfahrt zu den Paul-Lincke-Höfen nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad trommelt. Und manchmal kann er es sogar verstehen, wenn sich die Jugendlichen, die auf der Straße herumlungern, das holen, was sie brauchen. Das ist, denkt er dann, nur eine andere Form des Rückzugs in die eigenen Räume, des erzwungenen Rückzugs. Nur die Währung, die ist eine andere. Manchmal liest Lothar von Städten, wo an manchen Orten Champagner getrunken wird, während nicht weit davon der Geruch brennender Autoreifen in die Luft zieht. Ob die Projektentwickler dort auch von einer „widerspruchsfreien Kompatibilität“ zwischen Arm und Reich gesprochen haben?

Vielleicht ahnt Lothar ja auch, dass irgendwann nicht nur die eine Seite, sondern auch die andere, seine, ein Problem haben wird, dass es dann aber nicht mehr viele, vor allem keine öffentlichen Mittel mehr geben wird, sie aus der Welt zu schaffen. Das sind so die Gedanken, die dem Protagonisten der Neuen Wohnkultur auf der Straße durch den Kopf gehen könnten. In den eigenen vier Wänden angekommen, sind diese Zweifel allerdings wieder vergessen.

Nächsten Montag: Die Grenzen der Sicherheit

Die Privatheit der „Neuen Mitte“ ist das individuelle Pendant zur Privatisierung des kommunalen VermögensEs ist aber nicht nur der öffentliche Raum, der verschwindet, sondern auch das Bedürfnis nach Öffentlichkeit