Wilde Jagd in Blankenese

Bei Rennen wie den Hamburger Cyclassics schlägt die Stunde der Radprofis, die sonst eher im Schatten stehen    ■ Von Jörg Feyer

Hamburg (taz) – Als kürzlich die Jury einer großen Zeitung die deutsche „Jahrhundert-Elf“ kürte, konnte nur Lichtgestalt Franz Beckenbauer die Maximalpunktzahl von 110 erreichen. Doch auch andere Heroen besserer Nationalmannschaftszeiten, Fritz Walter oder Gerd Müller, blieben nur unwesentlich hinter dieser Bestmarke zurück. Die besten Radprofis, die jährlich in zehn Rennen zwischen März und Oktober um den Weltcup streiten, können von solchen Top-Quoten nur träumen.

Andrei Tchmil, Moldauer mit belgischem Pass in Diensten des Lotto-Mobistar-Teams, reichten gerade mal 208 von möglichen 600 Punkten, um gestern als Weltcup-Spitzenreiter in die HEW-Cyclassics von Hamburg (nach Redaktionsschluss beendet) zu starten. Wobei er gewiß vom Formsturz des zweitplazierten Frank Vandenbroucke (199 Punkte) profitierte: Der Belgier, Sieger beim Frühjahrs-Klassiker Lüttich –Bastogne – Lüttich, mußte eine Suspendierung wg. inzwischen entkräfteten Dopingverdachts aussitzen und vorletzten Sonntag, bei der Clásica San Sebastián, prompt vorzeitig vom Rad steigen. In prominenter Gesellschaft übrigens: Auch Jan Ullrich, derzeit nach seinem Sturz bei der Deutschland-Tour um Formaufbau für die Spanien-Rundfahrt im September bemüht, und Tour-de-France-Sieger Lance Armstrong – eher müde vom vielen Feiern – schafften die letzte Steigung nicht mehr.

Ohnehin spielen diese und andere Rundfahrtspezialisten in der Weltcup-Gesamtwertung kaum eine Rolle. Wenn sie sich noch bei zweitklassigen Etappenfahrten „einrollen“, stehen im März und April gleich fünf harte Eintages-Klassiker im Weltcup-Kalender. Armstrong kann immerhin einen zweiten Platz beim Amstel-Gold-Race in Holland vorweisen, macht 70 Punkte und Rang 15. Darüber hinaus aber ist nur ein weiterer Fahrer aus den Top Ten der 99er-Tour unter den ersten 30 der laufenden Weltcup-Runde vertreten (Daniele Nardello als 28.).

Wer den begehrten Weltcup nach der abschließenden Lombardei-Rundfahrt in den italienischen Himmel stemmen möchte, muß in jedem Fall Konstanz und Explosivität vereinen, über Sprint- wie Kletterqualitäten verfügen. Tchmil, mit immerhin schon 36 Jahren eine Art Lothar Matthäus auf zwei Rädern, konnte bei allen sechs vor Hamburg ausgetragenen Rennen in die Punkte fahren, die jeweils für die 25 Erstplazierten vergeben werden. Beim Saisonauftakt Mailand – San Remo begrub er mit einem gewagten Antritt vor der eigentlichen Sprint-Distanz alle Hoffnungen von Telekom-Mann Erik Zabel auf den dritten Sieg in Folge. Aber auch beim anachronistischen Ritt von Paris nach Roubaix zeigte Tchmil Stehvermögen auf den Kopfsteinpflaster-Pavés und konnte als Achter noch anständig punkten.

Ein Modus, der zwischen Gewinner und Zweitem immerhin 30 Punkte klaffen läßt, begünstigt Comebacks. Francesco Casagrande etwa durfte im Frühjahr nur zuschauen; nach gleich zwei positiven Doping-Proben (Testosteron) war der Italiener neun Monate gesperrt. Nach seinem Sieg in San Sebastián konnte der Italiener gleich auf Platz 7 des Weltcups durchstarten. In Hamburg aber, wo immerhin sieben Fahrer aus den Weltcup-Top-Ten gemeldet hatten, war auch er nicht am Start.

Die Cyclassics, professionell und konsequent als Event mit Jedermann-Beteiligung von diesmal gleich 8.000 (!) Hobby-Pedaleuren vermarktet, feierten im letzten Jahr ein geglücktes Debüt als Weltcup-Rennen; der Radsportweltverband UCI monierte nur eine zu lange Siegerehrung, vergab 99 von 100 möglichen Punkten und klopfte den Weltcup-Status bis 2001 fest. Sportlich hingegen ist der Rundkurs über 251 km weiter umstritten. Der dreimal zu erklimmende Waseberg, eine zwar 16-prozentige, aber gerade mal gut 300 Meter lange Steigung im Nobelvorort Blankenese, reicht in der Regel nicht, um den Rhythmus der Besten zu brechen. Ein echter „Scharfrichter“, der die Spreu vom Weizen trennt, sieht anders aus. Beispielsweise wie die berüchtigte Mauer von Geraardsbergen in der schweren Flandern-Rundfahrt, Anfang April traditionell das zweite Weltcup-Rennen.

Peter Van Petegem, der dort in diesem Jahr triumphierte und vor Hamburg mit 135 Punkten den vierten Weltcup-Platz belegte, favorisiert auf deutschem Terrain eher den am 1. Mai ungünstiger terminierten Main-Taunus-Klassiker „Rund um den Henninger Turm“, ein „anspruchsvolles, gutes Rennen“. Hamburg, so verriet der Belgier aus dem TVM-Team dem Fachmagazin Tour, sei dagegen „ein Glücksspiel und ein gefährlicher Kurs“. Da bleibt wohl nur die Binsenweisheit, wonach jedes Rennen so schwer ist, wie die Fahrer es machen ...