■ Wer nicht für Gerechtigkeit sorgen will, muss den Neid mögen
: Entweder – oder

Während man sich zu meiner Zeit noch anstrengen musste, um die Radikalität eines einfachen Jusos zu erreichen, braucht man heute nur „soziale Gerechtigkeit“ zu flüstern, um einen Aufschrei zu provozieren. Der ganze Kanon des Neides, so hieß es anlässlich des Gysi-Papiers, gruppiere sich um die Stichworte „sozial“ und „gerecht“.

Sprechen wir also über den Neid. „Unermesslich ist die Macht des Neides gerade in freien, demokratischen Nationen“, sagte der Historiker Treitschke im vorigen Jahrhundert. Mit dieser Bemerkung kritisierte er die moderne Ordnung, die ihren Mitgliedern keinen festen, unveränderlichen Status zuweist, sondern Gelegenheit zu sozialem Aufstieg gibt. In Gleichheit postulierenden Ordnungen spielt das neidische Schielen nach oben natürlicherweise eine größere Rolle als in solchen, deren Hierarchie feststeht.

Die Macht des Neides ist in der modernen Gesellschaft aber nicht nur unermesslich, sondern auch unerlässlich. Pivate vices, public benefits – die privaten Laster sind die Grundlage für das öffentliche Wohl – unter dieser Formel hat der Liberalismus die staatliche Lenkung zurückgedrängt, die den Anspruch hatte, Gerechtigkeit von oben her walten zu lassen. Die paternalistische, monarchische Instanz, die für Gerechtigkeit sorgt – die Instanz, der Treitschke den Vorzug gegenüber dem Neid gab –, wurde in der Überzeugung abgeschafft, dass die individuellen Antriebe trotz ihres Egoismus zu einem allgemein verträglichen Ergebnis führen.

Heute ist das liberale Konzept noch weiter fortgeschritten. Es verachtet nicht nur regulierende Instanzen, sondern auch regulierende Ideen. In den kommunikations- und spieltheoretischen Modellen, die das Politikverständnis bestimmen, stört die Idee der Gerechtigkeit, weil sie als systemexterner Fixpunkt in Erscheinung tritt, der das freie Spiel der Kräfte behindert. Politik wird als das Ergebnis des Geschiebes der Pressuregroups angesehen, über dem keine moralische Maxime schwebt.

Innerhalb dieses Modells darf Neid kein Schimpfwort sein. Er ist das private Laster, das die Grundlage für das Allgemeinwohl ist. Wer dieses Modell nicht mag, wer den Neid hässlich findet, muß zurückgehen zu dem alten Konzept, in dem der Staat das Allgemeinwohl verkörpert. In diesem Konzept allerdings ist Gerechtigkeit eine gute Idee. Man muss sich entscheiden, ob man den Neid oder die Gerechtigkeitsidee beschimpfen will. Beides zusammen geht nicht. Sibylle Tönnies