Die Einsamkeit des Großkritikers

Heute erscheint Marcel Reich-Ranickis Autobiografie: Die bittere Bilanz eines jüdischen Lebens in Deutschland  ■   Von Volker Weidermann

Im Herbst 1985 saß Deutschlands einflussreichster Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki im Zuschauerraum der Frankfurter Kammerspiele und wartete auf die Aufführung von Rainer Faßbinders neuem Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Doch es wurde nicht aufgeführt. Auf der Bühne stand Ignatz Bubis, damals Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, und protestierte, gemeinsam mit anderen Gemeindemitgliedern gegen die Aufführung des Stückes, das als antisemitisch galt. Reich-Ranicki war ärgerlich. Nach einiger Zeit betrat auch er die Bühne und bat Bubis, die Aufführung nicht länger zu behindern. Er wolle jetzt das Theaterstück sehen.

Nicht etwa, dass Reich-Ranicki das Faßbinder-Stück nicht auch für antisemitisch gehalten hätte. Im Gegenteil. Für den Kritiker war es jedoch ein wichtiges Zeitdokument, ein Zeichen dafür, dass für Juden in Deutschland „das Ende der Schonzeit“ gekommen war. Ein Tabubruch, der dem Zeitgeist entsprach und der später im Historikerstreit und der Walser-Bubis-Debatte seine fatale Fortsetzung finden sollte.

Heute erscheint Marcel Reich-Ranickis Autobiographie unter dem schlichten Titel „Mein Leben“. Es ist die bittere Bilanz eines halb deutschen und halb polnischen Juden, der mit unbeschreiblichem Glück dem Holocaust entkam und später vergeblich versuchte, in Deutschland heimisch zu werden. Es ist ein Buch der Bitternis, der Einsamkeit und Angst. Angst vor dem deutschen Rohrstock, der deutschen Gaskammer, der deutschen Barbarei.

Marcel Reich, wie er damals hieß, war neun, als er 1929 aus Polen nach Berlin kam. Er war achtzehn, als er mit dem ersten großen Transport nach Polen deportiert wurde. Er kam nach Warschau, in den Bezirk, der schon bald „das Ghetto“ heißen sollte. Was er aus dieser Zeit berichtet, ist so erschütternd, dass das Lesen manchmal schwerfällt. Der Ghetto-Alltag, das tägliche Sterben, die Willkür der deutschen Soldaten, das Leben mit der Todesangst. Hier im Ghetto hat er seine Frau Teofila kennengelernt, an dem Tag, als sich ihr Vater erhängte. Hier im Ghetto hat er seine eigenen Eltern zum „Umschlagplatz“ gebracht, wo sie in die Waggons verladen wurden, die direkt in die Gaskammern von Treblinka fuhren. „Ich sagte ihnen, wo sie sich anstellen mußten“, schreibt Reich-Ranicki.

Nur knapp dem Abtransport nach Treblinka entronnen

Auch er selbst musste sich, gemeinsam mit seiner Frau, mehrmals anstellen. Dann zeigte ein gelangweilter junger Mann entweder nach links, was den Tod bedeutete oder nach rechts. Reich-Ranicki, der als Sekretär des Judenrates auch den Befehl zum Abtransport der Juden nach Treblinka zu protokollieren hatte, durfte nach rechts. 1943 ist ihm dann, gemeinsam mit seiner Frau, die Flucht gelungen. Die letzten Kriegsjahre konnten sie bei einem polnischen Ehepaar untertauchen.

„Wir sind aus unbegreiflichen Gründen auserwählte Kinder des Grauens. Wir sind Gezeichnete, und wir werden es bleiben bis zu unseren letzten Tagen“, schreibt Reich-Ranicki. Und von seiner späteren Biografie kann nichts verstehen, wer dies nicht mitdenkt. Nicht seine Zeit als Mitglied in der Kommunistischen Partei Polens, als polnischer Konsul in London, der Exilpolen ausspionieren ließ, (was er überraschend ausführlich und selbstkritisch schildert) und als Literaturkritiker, der seine Beurteilungsmaßstäbe bis 1955 allein im sozialistischen Realismus fand.

Das änderte sich ebenso schnell wie radikal mit seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1958, wo er in kurzer Zeit, auch dank der Hilfe von Heinrich Böll und Siegfried Lenz im literarischen Leben Fuß fassen konnte. Seine erste Buchbesprechung wurde gleich von der FAZ veröffentlicht und er war schnell einer der wenigen Kritiker, der zu den Treffen der Gruppe 47 geladen wurde. Eine Blitzkarriere, die er auch seinem pointierten Schreibstil verdankt, der keine Abstufungen kennt, nur schwarz oder weiß. „Was immer man mir vorwerfen mag. Die Unlust, ja und nein zu sagen, gehört wohl nicht dazu“, lobt Reich-Ranicki sein Schreibprogramm.

In der Redaktion der „Zeit“ als Jude ausgegrenzt?

Dieser Mut zur Entschiedenheit brachte allerdings manche Peinlichkeit mit sich. Als er 1959 in seinem ersten Beitrag für Die Zeit „Die Blechtrommel“ besprechen sollte, war sein Urteil wieder einmal eindeutig: Misslungen! Er hat das später zähneknirschend revidiert.

Trotzdem begann mit diesem Beitrag seine regelmäßige Mitarbeit für Die Zeit, die ihn als einzigen festen Autor für Buchrezensionen beschäftigte. Reich-Ranicki hätte glücklich sein können. Aber er war es nicht. Völlig vereinsamt und isoliert lebte er mit seiner Frau in einer kleinen Wohnung im Hamburger Vorort Niendorf, produzierte Manuskript auf Manuskript und wurde in vierzehn Jahren Redaktionszugehörigkeit nicht ein einziges Mal zu einer Konferenz hinzugebeten. „Ich wurde ausgegrenzt, ich fühlte mich ausgeschlossen“, schreibt Reich-Ranicki. Er wollte diese Ausgrenzung, wie er schreibt, lange Zeit nicht auf sein Judentum beziehen, doch seit er kürzlich in einer offiziellen Publikation der Zeit gelesen hat, man habe ihn, „diesen rabulistischen Mann“ lieber nicht in der Redaktion haben wollen – ein Ausdruck, der Reich-Ranicki an antisemitische Artikel von Goebbels erinnert –, sei er da nicht mehr so sicher.

Auch mit der zweiten großen Station seiner Karriere, als Literaturchef bei der FAZ hatte Reich-Ranicki nicht viel mehr Glück. Er hatte nun zwar den wohl einflussreichsten Posten des deutschen Literaturbetriebs inne, aber als Überlebendem des Holocaust wurde ihm auch diese Zeitung keine Heimat. Hier konnte es nicht nur passieren, dass er etwa bei der Buchpräsentation der Hitler-Biographie des FAZ-Herausgebers Joachim Fest plötzlich dem Kriegsverbrecher und Hitler-Freund Albert Speer begegnete, sondern von dieser Zeitung ging auch der „Historikerstreit“ aus. Hier durfte der Historiker Ernst Nolte, unterstützt von Fest, unwidersprochen seine Thesen verbreiten, der Judenmord der Nationalsozialisten sei eine bloße Reaktion auf den stalinistischen Massenmord.

Der heute neunundsiebzigjährige Reich-Ranicki sieht in diesem Streit, neben dem Faßbinder-Stück, noch heute den entscheidenden Tabubruch, der den Nachkriegskonsens zerstörte, der ihm das Leben in der Bundesrepublik als Jude wieder ermöglicht hatte.

Am Ende bleibt nicht mehr als Bitterkeit und Einsamkeit. Von Freunden ist in dem Buch, außer von Walter Jens, mit dem er inzwischen freilich auch zerstritten ist, nicht die Rede, von einer Heimat, außer der deutschen Literatur, auch nicht. Dass er es nicht bereut hat, nach Deutschland zurückgekehrt zu sein, liegt, wie er schreibt, vor allem an einem Bild, das er im Kopfe trägt und das ihm mehr bedeutet als alles andere: der Kniefall Willy Brandts am Mahnmal des Warschauer Ghettos, dort wo früher der Umschlagplatz war. 1990 hat er Brandt getroffen und ihm von seiner Zeit im Ghetto erzählt: „Als ich mit meinem kurzen Bericht fertig war, hatte jemand Tränen in den Augen. Willy Brandt oder ich? Ich weiß es nicht mehr.“ Marcel Reich-Ranicki: „Mein Leben“. DVA, 1999, 568 Seiten, 49, 80 DM