„Wir wollen ihm nicht böse sein“

■ Interview mit dem Nobelpreisträger Thomas Mann (124) über seinen stärksten Verbündeten in der deutschen Literaturkritik der Gegenwart

taz : Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki betrachtet Sie als den größten deutschsprachigen Schriftsteller des Jahrhunderts. Nach Ihrem „Zauberberg“, so heißt es immer noch, sei kein vernünftiger deutscher Roman von mehr als 500 Seiten mehr entstanden .

Thomas Mann: So sieht er mich. Gott steh ihm bei.

Reich-Ranicki tritt oft als gestrenger Richter auf, der alleine über die gültigen Kriterien zu verfügen scheint, die ein Kunstwerk groß machen.

Der häufig hervortretende Anspruch des Kritikers, dem Interpreten Weisungen zu geben, ihn durch Auslegungen eines dichterischen Charakters zu verpflichten, stellt sich fast regelmäßig als lächerlich heraus.

Lächerlich? Aber Entschiedenheit gehört doch zur Literaturkritik?

Diese Auffassung wäre richtig, wenn man heute noch Lust hätte, den Kritiker als eine Art ästhetischen Schulmeister zu verstehen, dessen vollkommen überflüssiges Amt es wäre, Zensuren unter die Künstlerschar zu verteilen.

Das klingt ja allerdings recht kritisch gegenüber dem Mann, der Sie so verehrt.

Er hat viel äußere Verwirrung gestiftet - er hat im Grunde nicht sehr zu schaden vermocht.

Oft hat der Kritiker Ranicki in seinen Rezensionen zu persönlich verletzenden Attacken gegriffen. Wie weit darf ein Kritiker gehen?

Es bleibt vollkommen unbegreiflich, wie er sich dabei zu Äußerungen erhitzen kann, die auch nur im Entferntesten geeignet sind, den Verfasser des Werks zu beleidigen.

Trotzdem. Haben nicht auch die Autoren oft überreagiert, wenn Sie sich über schlechte Kritiken allzu heftig beschwerten ?

Ich glaube, dass es die besten Autoren nicht sind, die mit der Kritik auf gespanntem Fuße leben, denn ich glaube, dass kein moderner schaffender Künstler das Kritische als seinem Wesen Entgegengesetztes empfinden kann.

Die Schriftsteller sollen sich also nicht so haben?

Der treffende Ausdruck ist immer gehässig. Das gute Wort verletzt.

Von der Literaturkritik heißt es, sie denke zu wenig an die Leser. Ist es gut, mit dem „Literarischen Quartett“ eine höhere Instanz geschaffen zu haben, fern der Kritiken in den Tageszeitungen?

Unsere Tageskritik ist in der Tat in den meisten Fällen nicht würdig, ja, einfach nicht imstande, das letzte und entscheidende Wort über irgendeine Produktion zu sprechen. Eine Instanz über ihr zu schaffen, ist ein Versuch, der gewiss aufs Wärmste akklamiert werden muss.

Dabei darf es auch Entgleisungen geben, wie im Falle Grass?

Kommt, wir wollen ihm nicht böse sein.

Was schätzen Sie an Marcel Reich-Ranicki am meisten?

Nichts ungeheuchelter, nichts tieferen Ursprungs, als die enthusiastische Empörung, in der er sich aufrichtet.

Und was sagen Sie taz-Lesern zu seinem neuen Buch?

Lest dies! Merkt dies! Es ist ein Sendschreiben, ein kleines Manifest.

Aus Originalzitaten zusammengestellt von Volker Weidermann