Form und Faschismus

Travis mit Theweleit: Gaspar Noés Spielfilmdebüt „Seul Contre Tous“ setzt an, wo „La Haine“ und „Taxi Driver“ aufhörten  ■ Von Tobias Nagl

„Ich gehöre weder zur bürgerlichen, dominanten Familie der Autorenfilmer, noch zur kommerziellen“, erzählte der 35-jährige Gaspar Noé kürzlich einer französischen Filmzeitschrift. Und tatsächlich: Seul Contre Tous aka I Stand Alone steht ziemlich allein im französischen Kino, ist eine der Überraschungen der letzten Jahre überhaupt, ist bisher vielleicht der einzige Film, der über den Tod Sam Fullers hinwegtrösten mag – ist Taxi Driver mit Theweleit, ohne Macho-Glamour und mit präziser Klassenanalyse: ist das virtuos-filmverliebte Kamerakino, das Scorsese, durch Fassbinder oder Pasolini vom Kopf auf die Füße gestellt, hätte schaffen können, wäre Drehbuchautor Paul Schrader nicht transzendentalistischer Calvinist, sondern eben Marxist gewesen.

Gaspar Noé ist dabei mindestens genauso cinephil und zitatversessen wie Scorsese und Tarantino zusammen. Nur gelingt es ihm, mit einem Maximum an Form ein Maximum an historischer Signifikanz mitzuschleppen, als wolle er noch einmal beweisen, dass ein wirklich politisches Kino erst recht von seinem ästhetischen Potential profitiert. Das ist ungleich höher als bei allen anderen französischen Filmemachern, die in den letzten Jahren sich verstärkt jener sozialen Frage stellten, die die Franzosen friction sociale nennen. Trotz allem Stilismus landet er mit beiden Beinen in den psychodynamischen Auswirkungen der post-fordistischen Misere, die in der Abschaffung der Arbeit unter kapitalistischem Kommando besteht, der Konstititution der Arbeitslosen als eigener sub-proletarischer Klasse an und für sich, und deren vielleicht obszönsten Ausdruck der Auftritt Le Pens als zynischer Witzonkel in populistischen Talkshows darstellt. „Die bloße Existenz des Anderen ist das Ärgernis. Jeder andere ,macht sich breit' und muss in seine Schranken verwiesen werden, schrieben Horkheimer/Adorno in „Elemente des Antisemitismus über die Differenzparanoia des faschistoiden Alltagsbewusstseins.

Noé illustriert sie als rhapsodische Stream-of-Consciousness-Off-Stimme eines durch die Banlieus des Jahres 1980 Amok laufenden Fleischers (Philippe Nahon) : als widersprüchliches Gemisch aus Homophobie und Mysogynie, Rassismus und anti-bourgeoisem Klassenbewußtsein, spezifisch französischem Anti-Nazismus und haßerfülltem Sozialdarwismus. Noé wollte seinen Film auch „Lumpen“ nennen, sagt er, wäre dieser Begriff nicht durch liberale Intellektuelle korrumpiert. In einem kurzen Foto-Flashback legt er den zwischen Kastration und Kompensation pendelnden Hintergrund des namenslosen, 50-jährigen Fleischers frei, der anderen für einen ganzen Film gereicht hätte: geboren als Sohn eines von den Nazis ermordeten Resistance-Kämpfers; Fleischer seit seiner Jugend; schwängert eine Jungfrau in einem heruntergekommenen Hotel, die ihn für einen Migranten verläßt; sticht einen Nachbarn nieder, als er die erste Menstruation seiner Tochter für das Anzeichen einer Vergewaltigung nimmt; heiratet nach der Entlassung aus dem Gefängnis aus finanziellen Motiven eine Kneipenbesitzerin in Lille, die er hasst.

Auf ihre alten Tage noch einmal schwanger, verweigert sie ihm zu Beginn des Films das versprochene Geld für den Aufbau einer Fleischerei. Nach weiteren Ehestreitigkeiten schlägt er seiner Frau gezielt in den Bauch und flüchtet zurück nach Paris, wo er sich in einem heruntergekommenen Hotel einquartiert. Seine alte Fleischerei floriert in der Hand eines anderen, während er durch die Straßen und Kneipen irrt, auf der Suche nach Arbeit und seiner Tochter aus erster Ehe.

Von da an nehmen die Gewaltfantasien und Projektionen derartige Ausmasse an, dass nicht nur der obsessive Off-Kommentar immer unglauwürdigere Züge annimmt, sondern sich auch die Kamera einer zunehmend halluzinatorischeren Bildsprache bedient, die bald kaum noch einen Bezug zur Außenwelt des Protagonisten aufrecht erhält. Das Ende dieser Odyssee in den Armen der Tochter erzählt Noé zweimal, beide Male allerdings als Inzest: als blutiger Doppel-(Selbst-) Mord und als Papas schmutziges Geheimnis, in dem sich der romantische Pakt gegen eine feindliche Welt realisiert.

Filmisch verläßt sich Noés mit allen Männlichkeitsmythen selten konsequent aufräumendes Melodram auf ein pixeliges, 16mm-Cinemascope, dessen irreale Farbgebung und Räumlichkeit er wie Sirk zu nutzen weiß, arbeitet mit comichaft-gestischen Close-Ups, die wissen, dass das Bild eines Revolvers im Kino immer heißt: Hier ist ein Revolver! – fügt riesige Zwischentitel in der Art des jungen Godards ein und schneidet auf die akustisch antizipierten Schüsse des Finales, gefolgt von amphetamingeladenen Zoom-Cuts oder Reißschwenks. Wenn „Seul Contre Tous“ trotz seiner stilistischen Raffinesse bis heute keinen deutschen Verleih gefunden, dann vielleicht auch, weil Noé nicht nur „Fragen“ im Schatten des Faschismus als wieder hegemoniefähiger Option und neuem Klassenbewusstsein der Abgeschafften stellt – sondern mit dieser Massenpsychologie des Ressentiments auch Antworten wagt. Und die tun weh.

heute, Cinemaxx, 18.15 Uhr