Der kleine König aus der Kaiserstadt

Das Prinzip Dr. Linden: Repräsentieren, den Ruhm der Stadt mehren, mit der Wirtschaft kungeln und den Beamten Beine machen. Was ein Oberbürgermeister alles tut, um wieder gewählt zu werden  ■   Aus Aachen Bernd Müllender

Mistköter! Es ist 5 Uhr 55. Ein Nachbarshund kläfft Dr. Jürgen Linden aus dem Schlaf, 20 Minuten vor dem Wecker, ärgerlich. Mit Gattin Maria, einer Schulleiterin, folgt „ein ausführliches Frühstück“: Kaffee, Brot, Marmelade. Abfahrt halb acht. 12 Stunden Arbeit stehen an, vielleicht auch 14. „So genau“, sagt Aachens Stadtchef, „weiß man das vorher nie.“

Der SPD-Mann und Rechtsanwalt Dr. Jürgen Linden, 52, ist Aachens „Doppelspitze“: Hauptamtlicher Oberbürgermeister und obendrein Verwaltungschef. 1989 war der rot-grüne Wahlsieg in der CDU-Festung eine Sensation. Mittlerweile gehört Linden zum Inventar, geschätzt als Investorenmagnet und weltläufiger Repräsentant, eloquent und anpassungsfähig, aber auch gefürchtet als raffiniertes Cleverle. Sein Spitzname in der Kaiserstadt: „der kleine König von Aachen“.

Im September wird in Nordrhein-Westfalen der OB erstmals direkt gewählt, wie früher nur in Baden-Württemberg und Bayern. Kaum einer zweifelt derzeit, dass Linden in Aachen das Rennen macht – selbst wenn es nach Wegfall der Fünfprozentklausel im Stadtrat wieder eine konservative Mehrheit geben sollte. Zu farblos sind die Konkurrenten, zu gut die Umfragewerte (55 Prozent), zu günstig die Möglichkeiten der Selbstdarstellung als Amtsinhaber. Nur: Wie geht das genau?

Zuerst geht es ins Büro, stundenlang sitzt Linden da. Das saalartige OB-Zimmer im alten Aachener Rathaus ist gemauerte Historie, repräsentativ, fürstlich. Wuchtige Gemälde und Lüster, gediegene Perser. Auf dem Besprechungstisch immer Thermoskaffee, Printenschale, Aschenbecher. Diverse Gesprächstermine stehen an. Mit, wie sich zeigen sollte, durchaus heiklen Themen.

Jürgen Linden sagt, sein Alltag sei anders, als er sich in der Medienwahrnehmung widerspiegele: Nur ein kleiner Teil seien öffentliche Außentermine, 90 Prozent gehen für Aktenarbeit drauf, für Post, Interna, Organisation.

Zwei Verwaltungsleiter sind jetzt zu einer Art Strategietreffen gekommen. Thema: „Marketing für Aachen“. – „Wie man“, so Linden, „die vielen Initiativen koordinieren kann“: lokale Agenda 21, Aachen 2020, das Projekt Ökologische Stadt der Zukunft, im OB-Kurzsprech immer „ÖSZ“ genannt. Linden sagt, ihm fehle der „gedankliche Overhead“. Kurze Diskussion. Telefon dazwischen. „Herr Botschafter, ich grüße Sie ..., ja, natürlich ..., kein Problem ...“

Die beiden hochrangigen Verwaltungsleute wirken, als würden sie gern mehr sagen, kritisieren, gegenreden. Trauen Sie sich nicht? „So, war's das?!“, fragt Linden. Abgang. Die beiden trollen sich.

Draußen wartet schon ein anderer Amtsoberer. Im Gepäck das schwere Thema „Umorganisation der Verwaltung“. Der OB: „Kostenstrukturen untersuchen! Das muss absolut klappen. Sonst kommt mir das Hochbauamt daher und sagt: Siehste, früher war doch alles besser.“ Zur Musikschule: „Ist beschlossen. Die Eins-vier-Mio machen wir“.

OB Linden, der seine hochwürdigen, staatstragenden Auftritte jedes Jahr bei der Karlspreis-Verleihung hat, kann auch flapsig reden. Einmal meint er: „Ich sag jetzt mal was richtig Blödes“. Ein ander Mal kalauert er: „Wer A sagt, muss auch limente zahlen“.

Um 11 ein erster Auswärtstermin. Pressekonferenz „Benefiz-Rockkonzert für den Kosovo“. Linden ist Schirmherr. Sagt nur: „Ich werde da wohl nur dabeisitzen.“ Sagt dann doch noch kurz etwas: „Betroffenheit ..., helfen ...“ Am Ende singt er sogar „Let it be“ – zusammen mit einem Dutzend Aachener MusikerInnen, darunter Neubürgerin Ina Deter. Keine hörbaren Dissonanzen.

Lindens Fahrer ist begeistert: „Der kann einfach alles. So volksnah und gar nicht abgehoben. Der spricht eben die Sprache der Leute: morgens mit dem Botschafter und abends am Bratwurststand auf dem Fußballplatz.“ Bei den Aachener Alemannen sitzt Linden im Verwaltungsrat und manchmal auf der Pressetribüne, um ein Spiel fürs Lokalradio kozukommentieren. Volkstümlichkeit, gespeist durch, wie er sagt, „irrationales Herzblut für die Alemannia“.

Unterwegs aus dem Wagenfenster: Gruß hierhin, Gruß dahin. Wahlwerbung? Ein Grußreflex? „Ich hab wirklich ein sehr gutes Personengedächtnis. Das war eben die Leiterin der Sternsinger vom Pfarramt da drüben.“ Sprach's, schaut nach vorn und sagt: „Und das da drüben ist die Frau Nießen, die war mal Gewrkschaftssekretärin.“ Dann autotelefoniert er schnell mit Ulla Schmidt, Aachens SPD-Fraktionsvize in Bonn: „... habe an den Verheugen gedacht. Oder ob wir den Neudeck aufs Podium kriegen? Frag mal nach, ja! ... Nee, den nicht, einen PDS-Mann werden die Grünen nicht mitmachen ...“

Die Nächsten, bitte! 12 Uhr: die siebenköpfige Besuchergruppe einer Werbeagentur. Thema: „Das Projekt des Lichts“. Wie man diverse Prestigegebäude neu ausleuchtet – wattstark, werbewirksam, prachtvoll. Linden selbst hat die Idee aus Lyon importiert und sagt vorfreudig: „Wir wollen die Stadt anknipsen.“ Ende August soll es losgehen, kurz vor der Wahl, passend also.

Die Werber stellen ihren Zwischenbericht vor. Linden ist sehr zufrieden. Gemeinsame Überlegung: „Wer macht den Bettler?“ Heißt: Wer geht Förderer und Sponsoren an? Linden raucht sein zweites Zigarillo des Tages: Marke „Nobel“, Sorte „petit“, Stärke „light“. Nahtloser Übergang zur ausfallenden Mittagspause. Nur ein Salamibrötchen. Linden gesteht seine tiefe Liebe zu Kuchen („Am liebsten Nussecken“) – doch, leider, sein zuckerfeindlicher Arzt bremse ihn immer. Beim Kauen Postdurchsicht, ein Stapelchen „Was war inzwischen?“-Zettel. Kurz vor 14 Uhr im Eilschritt zum Wagen. 40 Jahre Betriebshof.

Der Dienstwagen kommt nicht recht voran. Kein Blaulicht? „So was hab ich mal in Ankara gehabt. Das war affenscharf. Aber hier besser nicht.“ Vor Ort nimmt der OB die Parade einer halben Hundertschaft Tiefbauarbeiter im orangefarbenen Blaumann ab, jeder einzelne wird mit Shakehands, Schulterklopfen und Smalltalk auf Platt begrüßt. Als er eine steinerne Mosaikarbeit geschenkt bekommt, kokettiert Linden mit seinem Wuchs: „Die kann ich mit meinen 1,70 aber nicht tragen.“ Lachen rundum. Nein, sagt Dr. Linden auf der Rückfahrt, die 1 Meter 70 seien nicht aufgerundet. „Ich war sogar mal 1,72, aber ich schrumpfe wohl schon.“

„Ja, natürlich, ja, das ist sehr sinnvoll, Herr Dr. Linden ...“ Im Laufe der Gespräche kriegt der OB nie Widerworte. Streit? Meinungskollisionen? Selbst offene Gegenargumente kommen selten vor. „Ja, genau so.“ „Das geht ja kaum anders.“ „Ja, gern, selbstverständlich.“ Lindens Referent sagt regelmäßig „Jawoll“. Linden lobt gern, aber fordernd: „Ich folge Ihnen total, aber ...“

Im Banne von Lindens Charmes wollen sich alle sonnen. Linden lenkt die Gespräche, stimmt zu oder widerspricht. Ein Gerhard Schröder von Aachen? Statt Kaschmir-Kanzler ein Hermelin-Sozialist, wie ihn Parteifreunde schon mal nennen. Von der Parteipolitik ist er weit weg. Aber Politik macht er ständig: Integration anderer; andere ins Boot holen, in sein Boot; kleine Dienstwege; Kontakte zu Jedermann. So geht Politik. So geht Macht. So geht das Prinzip Linden.

Dennoch oder deshalb ist er beliebt, angesehen, geschätzt. Als der Klenkes, Aachens Stadtmagazin, vor kurzem ein Dutzend Einheimische zur „charakterlichen Verortung“ des OB bat, kamen erstaunlich positive Werte zusammen. Selbst Aachens Politaktivistin Martina „Tutti“ Haase, zuletzt noch durch grobe Störmanöver bei Joschka Fischers Europawahlauftritt aufgefallen, kam im Gesamtergebnis auf ein Plus.

Jürgen Linden – everybody's darling. Doch man hört im Rathaus auch von einem anderen OB, hinter vorgehaltener Hand. Wenn etwas nicht perfekt läuft, soll es bisweilen einen mächtig aufbrausenden Chef geben, laut manchmal, ungeduldig und komplett wider sein Lebensmotto: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Öffentlich sagt das niemand. Angst und Abhängigkeiten sind zu groß.

Kurz nach 15 Uhr. Noch drei Gespräche bis zur Ratssitzung. Erst über einen Stadtteil, der eine eigene Bezirksverwaltung will. Wenig Chancen, aber Linden sagt: „Mal testweise versuchen.“ Heißt: Na ja, wird sowieso nix ... Danach die Leiterin des Rechnungsprüfungsamtes. Zuletzt der Chef des Bauamtes. Da bittet Jürgen Linden besorgtmienig um absolute Vertraulichkeit wegen des „sehr sensiblen Bauherrn“. Dieser, einer der (Einfluss-)Reichsten in Aachen und personengeschützt, will für seine Sicherheits-Crew ein protziges Gebäude im noblen Südviertel hochziehen. Linden zeigt die Zeichnungen, kommentarlos. Sein Gesicht spricht: Schrecklich! Klobig! Stadtentwicklungskonträr! Kurz: „Bah!“ Auch die ganz Großen stößt er schon mal vor den Kopf, zumindest zunächst. Aber: Hatte nicht die Computerfirma Elsa mitten in einem Naturschutzgebiet vergangenes Jahr einfach losgebaut, ohne jede Genehmigung? „Ja, aber das hab ich erst einmal sofort gestoppt.“ Jedoch: „Natürlich will man Firmen wie Elsa halten.“ Also: Längst baut Elsa – eine der, so Linden, „Strahlkräfte auf dem Arbeitsmarkt“ – nach abgewickeltem Anhörungsverfahren weiter. Elsa übrigens ist Hauptsponsor des „Aachener Kultursommers“, eines hochkarätigen Musikfestivals zwischen Rathaus und Dom. Der Kultursommer ist Lindens Prestigeprojekt, ist seine Erfindung.

17 Uhr Ratssitzung. Bürgerfragen zu den angeblichen Feldhamstern im grenzüberschreitenden Gewerbegebiet Heerlen-Aachen, Lindens ganz großem Renommierprojekt. Die Fragerei ist demokratisches Provokationsritual seit Monaten. Jürgen Linden, stehend, in seiner leitenden Routinerolle, moderierend, glöckchenschwingend, weil kaum ein Stadtvertreter zuhört. Ironisch Richtung Hamsterbürger: „Zu dem Thema äußern wir uns immer gesondert.“ Zuletzt hatte er sie als „militante Ökologen“ gegeißelt.

Gut drei Stunden Volksvertretung. Dienstschluss, „ziemlich früh“, schon vor neun. Kein Abendtermin. „Wann fängt Fußball an?“ Jürgen Linden ist fast pünktlich zu Hause. Deutschland gewinnt wieder nicht.