Fünf Teller für zehn Menschen

Das wohlhabende Bauerndorf Loxha stand ganz oben auf der Zerstörungsliste der serbischen Armee. Kein Haus blieb heil. Nun baut das Rote Kreuz es wieder auf  ■   Aus Loxha Philipp Maußhardt

Nur wenige Kilometer von der Bezirkshauptstadt Pec entfernt, liegt das Dorf Loxha. Es liegt in einer fruchtbaren Ebene, die selbst im heißesten Sommer dank des Wasser der nahen Gebirgszüge nie austrocknet. Ein gesegnetes Land, die Bauern waren wohlhabend. Sie konnten es sich leisten, aus eigener Tasche eine Schule, eine Arztpraxis, die Wasser- und Stromversorgung zu finanzieren.

So war es einmal. Der bäuerliche Wohlstand in Loxha ist Vergangenheit. Die jugoslawische Armee hat Loxha zerstört. Nicht ein bisschen und auch nicht halb, sondern zu hundert Prozent. Von den 320 Häusern stehen bis auf das Schulgebäude nur noch Ruinen.

Die Beklemmung, die einen zwischen den Ruinen von Loxha (gesprochen: Lodscha) erfasst, rührt nicht nur von den vielen Augen her, die jeden Fremden hier aus Zeltöffnungen oder Ruinenlöchern beobachten. Sie rührt her von der für ein Bauerndorf so ungewohnten Stille. Kein Hund bellt, keine Kuh muht, kein Hahn kräht.

Es gibt keine Tiere mehr in Loxha – aber wieder Menschen. Fast 700 der einmal mehr als 2.000 Bewohner sind inzwischen in die Ruinen zurückgekehrt, darunter auch 120 Kinder. In einer Mischung aus Resignation und Zuversicht hausen sie wie Höhlenbewohner in den Trümmern.

Seit ein paar Tagen überwiegt die Hoffnung: Loxha soll als erstes Dorf im Kosovo wieder komplett aufgebaut werden. Das hat das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und das Bayerische Rote Kreuz (BRK) den Bewohnern zugesagt.

Dabei sollte Loxha nach den Plänen des Belgrader Regimes von der Landkarte verschwinden. Lange bevor die Nato im Kosovo eingriff, wollten die serbischen Machthaber an diesem Dorf exemplarisch ihren Herrschaftsanspruch demonstrieren. Weil Anfang August 1998 bei einem Überfall der albanischen Rebellenarmee UÇK in der Nähe von Loxha vier serbische Polizisten getötet worden waren, bombardierte die jugoslawische Luftwaffe am 15. August 1998 mit vier Flugzeugen und sechs Helikoptern das Dorf. Es folgte ein tagelanger Beschuss mit Granaten, und als sich die zurückgebliebenen Männer auch noch gegen die anrückenden serbischen Soldaten zur Wehr setzten, war die komplette Zerstörung von Loxha beschlossene Sache.

Nach zwei Monaten war der Widerstand gebrochen, die jugoslawische Armee rückte mit Bulldozern an und machte nieder, was an Häusern noch stand. Ihre Wut ließen die Serben vor allem an der kleinen Moschee des Dorfes aus. Sie wurde bis auf die Grundmauern abgerissen. Am Ende waren die Soldaten offenbar sogar noch stolz auf ihr Werk. „So etwas schaffen nur die Serben“ – steht als Graffiti-Spruch an einer stehen gebliebenen Häuserwand.

Mit einer etwas gelangweilten Miene empfängt uns „Bürgermeister“ Tahir Shala im einzig noch benutzbaren Gebäude von Loxha, der ehemaligen Schule. Im Raum steht ein kleiner Tisch, auf dem er gerade Listen beschriftet, welche Familien wie viele Brote am Tag erhalten. Tahir Shala lässt deshalb nur mäßiges Interesse erkennen, weil wir nicht die ersten sind, die sich hier bei ihm die Geschichte seines Dorfes erzählen lassen. „Viele Hilfsorganisationen waren seit Ende des Krieges hier, haben uns viel versprochen und sind nie wieder gekommen.“

In Pec, das von den serbischen Militärs besonders stark verwüstet wurde, haben sich im Büro der UNO mehr als 60 internationale Hilfsorganisationen angemeldet. Doch neun Wochen nach Abzug der jugoslawischen Armee ist von Hilfe in der gesamten Region kaum etwas sichtbar. Zwar werden Nahrungsmittel verteilt und Plastikplanen als Regenschutz ausgegeben. Bereits ab Oktober kann hier der Winter einbrechen. Umso herausragender ist das Beispiel des Roten Kreuzes (siehe unten).

Jetzt hat das Deutsche Rote Kreuz auch für den Wiederaufbau Pflöcke eingeschlagen. Loxha soll mit Hilfe von DRK und BRK neu aufgebaut werden. Ein deutscher Bauingenieur hat die Schäden bereits aufgenommen, und noch im September wird mit den ersten Bauarbeiten begonnen. Als Tahir Shala an diesem Morgen verbindlich von dieser Zusage erfährt, hellt sich seine Miene auf.

Wie nötig die Hilfe ist, machte ein Rundgang mit dem „Bürgermeister“ deutlich, der Anführungszeichen deshalb noch tragen muss, weil er nicht gewählt, sondern von seinen Mitbewohnern nur ernannt ist.

Aus einer Hausruine bläst dicker, schwarzer Rauch durch ein rostiges Ofenrohr. Eine Familie sitzt hinter Plastikplanen, die sie notdürftig vor Wind und Regen schützen, beim Mittagessen. Vor dem Hauseingang schaukeln Tonnen schwere Betonteile an dünnen Eisenstangen von der Decke. Erstaunlich, dass hier noch niemand von herunter stürzenden Teilen erschlagen wurde.

Eigene Teller für die Mitglieder der zehnköpfigen Familie gibt es nicht. Je zwei Menschen essen von einem. Fünf Teller und ein paar verbogene Gabeln sind alles an persönlichem Besitz, was die zurückgekehrten Flüchtlinge in den Trümmern fanden. Der Rest wurde vor der Zerstörung auf serbische Lkws verladen.

Nur wenige Kilometer entfernt liegt das serbische Dorf Goraždevac. Als wir dort am Tag zuvor das Schulhaus betreten hatten, schloss ein Serbe schnell die Türe – doch nicht schnell genug, als dass wir die drei übereinander gestapelten Fernseher nicht gesehen hätten. „Ja“, sagt uns der Bürgermeister von Loxha später, „wir kennen die Namen der Diebe und Verbrecher aus dem Nachbardorf.“

Fast immer waren auch serbische Nachbarn an Plünderungen und Greueltaten in den albanischen Dörfern beteiligt. Kein Wunder, dass von Versöhnung hier niemand etwas hören möchte.

In Goraždevac ist kein Haus zerstört. In Loxha kommen nachts die Ratten in die Zelte und Ruinen. „Meine Frau haben sie vergangene Nacht in den Finger gebissen“, sagt der 65jährige Avdyl Shala. „Erst die Serben, dann die Ratten – und wir wissen nicht, welche schlimmer sind,“ sagt der alte Mann. Solche Sätze zeigen, wie tief der Hass sitzt.

Zum Abschied wird der alte Avdyl, der mit seinem weißen Fez noch die traditionelle Kopfbedeckung der Albaner trägt, ein wenig sentimental. „Was ich am meisten vermisse“, sagt er uns, „ist das Krähen des Hahns am Morgen.“ Wenigstens ein Wunsch, den man schnell erfüllen konnte. Wir kauften noch am Abend in einem Nachbardorf einen Gockel.