Zuckersüße Regina ...

... oder die Kunst, der Einen zu gefallen: Aus den Erinnerungen an eine Jugendliebe in Bremen  ■ Von Martin Korol

„Bremen 1961“ begann der Autor den ersten Teil seiner Erinnerungen ( vgl. taz vom 11.8.99 ) an seine Gymnasiasten- und Tanzschulzeit. Korol, der von seinem Lehrer Harms als „faules Stück Fleisch“ beschimpft wurde, lebte wie viele andere Jungen seines Alters in der Welt von Odysseus, Sigurd, Old Shatterhand und Don Quichote. Als er mit einem Tanzkurs begann, gesellte sich eine weibliche Heldin aus dem echten Leben hinzu: seine große Jugendliebe Regina ...

Sie ging in die 9. Klasse Karlstraße. In ihr begegneten mir die Jungfrau Maria und alle Engel meiner katholischen Kindheit, die germanische Frau à la Tacitus; Harold Fosters Aleta; Angelika aus Karl Mays „Buschgespenst“ und ein Hauch von Marlene Dietrich in einer Person: blond, Kurzhaarfrisur. Ihre ganze Erscheinung bis hin zu ihren Lippen war voll und zart; die großen Augen blau mit Augenbrauen leicht dunkler als das Haar. Allein diese kleine gerade Nase zum Verrücktwerden. Ihr fehlte jede Aggressivität, sie war sanft. Gewiss, ich habe den Geschmack von Millionen, aber das war es nicht allein.

Als ich sie das erste Mal sprechen hörte, war ihre Stimme leicht erhoben, aber mir kam nie der Gedanke, dass sie aufgeregt sein könnte. Sie trug einen Pullover aus Mohair, so himmelblau wie ihre Augen, und darüber einen schweren silbernen Anhänger. Sie war für mich so begehrenswert wie unnahbar. Dass wir jemals während der Tanzstunde zusammen übten oder dass ich gar wagte, sie zu fragen, ob ich sie denn nach Hause bringen dürfte, wüsste ich nicht.

Der Tanzunterricht lief so ab, wie ihn schon Tonio Kröger erlebte, nur machte anstelle eines Klavierspielers ein Plattenspieler Musik. Die Damen saßen auf der einen Seite, die Herren auf der anderen. Zu jedem Tanz stürzten die Herren auf die Damen zu, mancher fiel dabei hin. Elvis war noch verpönt. Frau Schipfer brachte mir den Langsamen Walzer höchstpersönlich bei, und ihren Merksatz

Cha-Cha-Cha zur Tür, Cha-Cha-Cha zum Fenster, die Dame dreht, der Herr sich dreht

habe ich noch heute hilfreich im Ohr.

Der sog. „Mittelball“ war ein Faschingsball. Ich ging alleine hin und traf Birgit. Sie kämpfte auf ihre feine frauliche Weise um mich und hatte sich gekonnt zurechtgemacht. Ich tanzte abwechselnd mit Birgit und mit Regina. Heute sollte mein Tag sein, ab heute wollte ich mit Regina gehen. Zunächst sah alles ganz gut aus, aber urplötzlich lief nichts mehr. Ich wollte dorthin tanzen, Regina in die andere Ecke – idiotisch. Wütend ließ ich sie auf der Tanzfläche stehen und sah mich zufällig im Spiegel an: Meine Wangen und der Mund waren so grün wie das Haar von Birgit! Noch heute weiß ich nicht, ob es nur Birgits grüne Farbe auf meinem Gesicht war, die Regina abschreckte, oder ob ich nie eine Chance bei ihr hatte. Mit wem sie den Abtanzball verbrachte, weiß ich nicht. Ich war es jedenfalls nicht.

Ich hatte Pech in der Liebe und im Spiel: Vor dem Ball wurden alle Damen, die noch nicht verabredet waren, verlost. So auch Regina. Mit mehreren anderen Knaben bewarb ich mich um sie. Einige ließen sich bestechen – von mir oder anderen hartnäckigen Mitbewerbern – und zogen sich zurück. Ich verstieg mich bis hin zu einer Zwölferpackung LUX als Verzichtsprämie plus meine Unterstützung bei der nächsten Dame seiner Wahl. Zum Schluss waren wir zu zweit. Jetzt musste eine Münze entscheiden. Ich wählte „Zahl“, mein Konkurrent „Kopf“. Richard machte den Schiedsrichter und warf ein Fünfmarkstück. Es rollte wie gewünscht unter ein Sofa. Richard holte es hervor und klatschte es auf die Hand – mit „Kopf“ oben! Hatte er wieder mal zuviel intus gehabt, missgönnte er dem Freund die Göttin? Ich kann ihn nicht mehr fragen, er ist tot.

Ich wollte nicht mehr zum Abtanzball gehen, tat es dann aber doch, weil sonst eine Dame ohne Herrn gewesen wäre, und ich war doch ein Ritter!

Was Regina angeht, war ich wie von Sinnen. Zwei, drei Jahre lang ging ich täglich zur Haltestelle der Straßenbahnlinien 5, 6 und 7 „Hemmstrasse“, um ihr zu begegnen. Und wenn ich einmal sah, dass sie aus der Ferne auf mich zukam, dann musste ich auf die Trennlinien der 50 mal 50cm großen Bürgersteigplatten sehen, um nicht zu taumeln. Ich hatte mir hundertfach ausgemalt, wie ich sie beeindrucken und blenden würde, wenn wir uns träfen und unterhielten. Aber mehr als ein „Tag, Regina“ „Tag, Martin“ erfolgte selten.

Einmal begegne ich ihr an der Martin-Luther-Kirche, Ecke Eickedorfer Straße, sie zu Fuß, ich mit Rad: Wir unterhalten uns und das gar nicht so schlecht. Ich stehe mit dem Hinterrad auf der Straße, die Autos müssen um mich herumfahren, ein VW-Bus hupt, aber ich bin unfähig, mich auch nur einen Schritt zu bewegen. Oder: Ich renne zur Straßenbahnlinie „7“, die von der Hemmstraße nach Rablinghausen fuhr. Gerade schaffe ich es, auf den Perron beim Fahrer vorne aufspringen. Ich keuche noch, neben mir steht die Göttliche. Ich beginne amüsant zu parlieren. Der Schaffner kommt: „Sonst noch jemand ohne Fahrausweis?“ Ich suche meine Monatskarte. Ich krame hier und da. Vergeblich. Ich stottere irgend etwas. „Das kennen wir“, sagt der Fahrer und hält mitten auf der Strecke. Unfähig, Regina um 80 Pfennige für einen Fahrschein zu bitten, steige ich leise fluchend aus.

You'll never know how many dreams I dreamed about you: Sie besucht mich in meinem Zimmer, ich sitze in meinem neuen schwarzen Cordhemd am Tonbandgerät und repariere es. „Das kannst Du auch?“ sagt sie, und ich lächle nur. Oder ich höre, Regina hat die Pest, die Pocken oder Lepra. Sie geht nicht mehr zur Schule, ihr Gesichtchen ist verunstaltet und entstellt. Niemand besucht sie, auch nicht ihre besten Freundinnen Regine und Renate. Nur einer kommt – ich. Klar, dass sie mich in ihre Arme nimmt und mich um Verzeihung bittet dafür, dass sie mich so verkannt hat. Doch nur in meinen Tagträumen wurde ich ihr Held. Ein halbes Jahr lang hatten ihre und meine Klasse zeitgleich Schwimmunterricht im Zentralbad. Aber ich legte nur einen ärmlichen „Köpper“ hin, wenn sie mal schaute, und als ich das erste und letzte Mal in meinem Leben vom Fünf-Meter-Turm einen Salto wagte, ging sie gerade abduschen.

Ich lud Regina vierzehn mal zu irgend etwas ein und bekam dreizehn Körbe. Als ich sie zum Beispiel einmal zu einer der beliebten Riverboatparties der Katholischen Jugend bitten wollte, reagierte sie mit einem müden „Muss denn das sein?“

Wir wohnten um die Ecke, lebten aber in verschiedenen Welten. Regina hatte einen kleineren Bruder, der wegen einer starken Sehschwäche dicke Brillengläser tragen musste. Er ging zum Parsevalgymnasium in der Vahr, das aus der Oberrealschule Dechanatstraße entstanden war. Manchmal standen wir nebeneinander in der Straßenbahn, aber wir redeten nie miteinander. Ihr Vater war DER Kinderarzt im Findorff; die Praxis war erst an der Münchener Straße, dann im neu erbauten Haus an der Dresdener Straße. Mich würdigte er keines Wortes.

Gegen Ende der 11. Klasse, kurz vor den Osterferien, mit denen das Schuljahr (bis 1966) endete, lud ich Regina zu einer Schuljahres-Abschlussfête bei meinem Freund Herwig Lueken ein, der zum Leibnizplatz ging und mit seinen Eltern an der Neustadts-Contrescarpe wohnte. Und sie sagte zu. Endlich. Am frühen Abend holte ich Regina aus der Dransfelder Straße ab. Ihre sehr sympathische Mutter verabschiedete sie mit „Tschüss, min Deern, und viel Spaß“.

Reginas Familie hatte einen Hund, genauer gesagt, eine Hündin. Darüber klärte mich Regina auf, als ich sie auf dem Weg zur Straßenbahn fragte, ob ihr Hund auch die Angewohnheit habe, das Bein zu heben und in Blumentöpfe zu pinkeln: Ihr Hund sitze beim Pinkeln. Ich wusste gar nicht, was sie meinte, fragte aber auch nicht nach, um nicht als blöd zu erscheinen. Die Fête war gelungen, feiern konnten wir, bevorzugte Getränke waren Sinalco/Eierlikör und Cola/Rum. Alle waren froh über die Ferien und die Zeugnisse.

Ich hatte zwei Fünfen bekommen und war sitzen geblieben. Das Schlimmste für mich aber war: Regina war kein bisschen arrogant, sondern warmherzig und liebenswürdig und konnte sogar scherzen, womit sie mich völlig überraschte, denn Humor war Männersache. Im Deutschunterricht, erzählte uns Regina, hätten sie „Tell“ gelesen. Eine Mitschülerin sei dabei eingenickt, und der Deutschlehrer (Horst-Werner Franke?) habe ins Klassenbuch eingetragen: „N.N. schläft bei Wilhelm Tell“. So versuchte die Gute mich aufzuheitern. Vergeblich. Ja, wenn es umgekehrt gewesen und sie sitzengeblieben wäre, dann wäre ich der King des Abends gewesen. Aber dass die Jungfrau dem Ritter half, machte mich fertig.

Regina hatte zwei Freundinnen. Die eine war Renate L., eher ein dunkler Typ und mir nie ganz geheuer. Die andere Freundin war Regine. Sie hätte Reginas Schwester sein können. An sie habe ich merkwürdigerweise nie einen Gedanken verschwendet. Die beiden Königinnen arbeiteten einige Zeit nachmittags in einer Bäckerei Ecke Göttinger/Eichenberger Straße. Richard und ich fuhren da häufig mit dem MB 220 SE seines Vaters samt Radio Becker-Mexiko mit Sendersuchlauf (!) vorbei, aber den Mumm, die beiden auf eine Spritztour nach Feierabend einzuladen, hatten wir nicht.

Gegenüber der Bäckerei war ein Laden „Obst, Gemüse, Südfrüchte“. Eines Tages offerierte der Obsthändler griechische Weintrauben. Mit weißer Farbe hatte er auf die Schaufensterscheibe gepinselt: „Zuckersüße Regina – Pfund DM 2,50“. Ich wollte das fotografieren und Regina das Bild schenken, aber daraus wurde nichts.

1963 hatte ich Unterricht in Russisch. Das fand zentral für Bremen unter der Leitung von Lehrer Wingerath im Gymnasium am Barkhof statt. Krönender Abschluss des ersten Halbjahres war eine Theateraufführung mit „Sa sto?“ von Dostojewski. Ich mimte einen Zeitungsverkäufer – den Text kann ich noch. Renate kam in der Pause in den Umkleideraum, als ich da in Unterhose stand. In Erwartung, dass Regina hinterher käme, baute ich mich zum Modellathleten auf. Aber Regina kam nicht. Ich gab Russisch auf.

Mitunter sah ich Regina noch, von weitem: Auf einem Ball beim „Ruderverein von 1882“; auf dem Freimarkt, inmitten einer lustigen Gruppe und immer mit irgendeinem Knaben. Längere Zeit war sie mit meinem ehemaligen Ruderkameraden Rolf Rathmann zusammen. Irgendwann nachts ging ich zufällig hinter den beiden vom Bahnhof über die Bürgerweide her. Regina hatte rote Schuhe an. Ich liebe Frauen mit roten Schuhen.

Das Leben, sagt William Somerset Maugham, lässt die wenigsten Dinge mit einem Knall enden, die meisten mit einem Winseln. 25 Jahre nach dem Tanzkurs bei Schipfer-Hausa war ich auf einer Gewerkschaftstagung in Hamburg, wo, das wusste ich, Regina mit Mann und vielleicht auch Kindern lebt. Man sollte alte Lieben ruhen lassen, ich weiß, das gilt schon für Wahre Lieben, um wie viel mehr für Große. Ich rief Regina trotzdem an.

Sie erinnerte sich nur schwach, kam aber vorbei und war die selbe Göttin wie 1961 – absolut, unfassbar. Wir gingen im Nieselregen an der Binnenalster entlang, redeten hergesuchtes Zeug und ich hatte die ganze Zeit einen fürchterlichen Druck auf der Blase. Jeder von uns war hinterher auf seine Weise erleichtert. Immer noch süchtig, schrieb ich ihr einen Brief und bat sie, die Französischlehrerin, meine synoptische Grammatik „Deutsch-Englisch-Französisch“ Korrektur zu lesen, die ich gerade erstellt hätte ... Sie antwortete nicht.

Sie lebt, wie ich dem „Telefonbuch für Deutschland“ entnehme, immer noch in Hamburg, gewiss glücklich im Kreis ihrer Lieben. Die Kinder, wenn sie denn welche haben, müssten schon aus dem Haus sein. Vielleicht ist sie schon Großmutter. Sie wird ihrem Mann geben, was er braucht, und ihn nicht überfordern, auch wenn sie ihn ab und an nervt, aber das tun sie alle, und selbst zum Lieben gehört ja, wie Emmy Hennings sagt, auch ein klein wenig Nicht-leiden-Können.

Ich habe Regina nie kennengelernt, nicht einmal mit ihr Händchen gehalten, aber meine jünglingshafte Sehnsucht nach der Frau schlechthin projizierte ich zurecht auf das damals 15jährige Mädchen. Da bin ich mir sicher. Ich wünsche Regina, dass sie genug Kraft hat, bis an ihr Lebensende schön, selbstbewusst, klug, warmherzig und humorvoll zu sein. Keines der von mir ebenso unglücklich geliebten Mädchen hat sich mir gegenüber so anständig verhalten wie sie.

Der Eros, warnte mich 1986 Manfred Hausmann, plage einen bis ins hohe Alter. „Aber man will nicht mehr besitzen, sondern verehren.“ Wollte ich je Regina besitzen? Ja und Nein. Verehren? Gewiss. Wollte ich Schönheit, Liebe, leiden? Was es auch immer gewesen sein mag, das mich zu Regina hinzog, es ist bestens aufgehoben: Seit mehr als 30 Jahren liebe und verehre ich meine Frau, geb. Hudemann, Kleine Helle 1957-1966.