Von Pasta und Patronen

Als Stasi-Eleve zückte Marco Roitzsch einst eine Walter PPK. Als Meisterkoch tischt er nun Wachteln und Gladiatorenfilet auf. Die Geschichte eines Überzeugungstäters  ■ Von Thomas Gerlach

Marco Roitzsch ist ein guter Koch. 27 Jahre und schon Maestro di Cucina neapolitano, Meister der neapolitanischen Küche. Zwei Jahre Ausbildung in Italien, Zertifikat liegt vor. Roitzsch kennt sich aus: Minestre, Pesce, Pizza, Balsamico und Cappuccino. „Natürlich mit aufgeschäumter Milch!“ Allerdings: Wenn ein Leipziger auf gesüßter Sprühsahne aus der Dose beharrt? Bitte schön!

Marco Roitzsch steht in seinem neuen Restaurant „La Galleria“. Geschorenes Haar, sportlicher Typ, Hände an der Hüfte, lässiger Blick auf Ölbilder, Spiegel und Panoramatapete. So sehen Unternehmer aus, die kein Kredit niederdrückt. „300.000 Mark. Alles bezahlt!“ Es war ein Schnäppchen. „Für 12.500 Mark kann mich hier sowieso keiner anstellen. Da hab' ich mich selbstständig gemacht.“

Der Zwei-Meter-Mann hat sich in die chromgelbe Ledergarnitur fallen lassen, eine Art gepolsterten Präsentierteller. Er fachsimpelt, aber nicht übers Kochen: „Nein, nein, Makarow hatten wir nicht. Wir arbeiteten mit der Walter PPK. Die Makarow ist zwar im Dauerfeuer besser, aber die Walter ist zielgenauer.“ Marco Roitzsch schwört auf die Walter PPK, dabei war es eine Pistole vom Gegner. Vor zehn Jahren hat er als Stasi-Eleve in Leipzig Bundesbürger verhaftet, aus Hotels heraus.

Roitzsch war noch nicht volljährig damals. „Ab 16 konnte man bei den bewaffneten Organen eine Waffe tragen, wenn man die nötige Qualifikation hatte.“ Marco Roitzsch hatte sie. Zu Dritt kamen die Kämpfer im Lada vorgefahren, haben sich das Gästebuch zeigen lassen, sind dann mit dem Portier auf die Etage. Klopfen. Den Pass zeigen. Schon klickten die Handschellen. Routine.

„Die Walter PPK haben wir eigentlich nie gebraucht.“ Eigentlich? „Im November 89 haben wir einen Probanden verhaftet, der war bewaffnet. Damit rechnet man doch nicht in der DDR?“ Nein, damit rechnete man nicht in der DDR, eine böse Überraschung. Der junge Aufklärer hat sie gemeistert. Man habe den „Probanden“ überwältigen können. Roitzsch kann auch boxen. Die Operation verlief unblutig.

„Proband“ klingt klinisch sauber, aseptisch und ein bisschen nach Krankenhauskacheln. Das Wort kommt ihm wie einem Arzt über die Lippen. „Wenn da ein Schuss gefallen wäre, hätten wir doch stapelweise Formulare ausfüllen müssen.“

Die Verhafteten sollen für „Republikaner“ und DVU geworben haben. „Die hatten Propagandamaterial dabei. Für die ging's ganz schnell nach Berlin.“ Was da passierte? „Keine Ahnung!“ Roitzsch hebt die Hände. Ein Flämmchen flackert, mit kräftigen Zügen schickt Marco Roitzsch eine Zigarette wölkchenweise zur Designerlampe an die Decke. „Überstellung an die zuständigen Justizorgane“ hieß das.

Lichtjahre scheinen zwischen dem Stasi-Kkämpfer und dem Meisterkoch zu liegen. Doch Marco Roitzsch kennt keine Widersprüche. Jedenfalls nicht bei sich. „Nach der Marxschen Klassentheorie gehören Kleinstgewerbetreibende auch zum Proletariat.“ Schließlich hatten auch Thälmanns Eltern einen Gemüseladen.

Der Küchenmeister entfaltet seine Rechtfertigungslehre: „Ich beute doch nur mich selbst aus.“ Roitzsch hat das „Kapital“ gelesen. „Da steht alles über den Kapitalismus drin.“ Fast alles. Ausbeuter und Ausgebeuteter, Proletarier und Bourgeois in einer Person, das kannte Marx noch nicht. „Von irgendwas muss ich doch schließlich leben, und im Grunde bin ich auch nur doppelt freier Lohnarbeiter.“ Schon ist Marco Roitzsch bei den Geknechteten angekommen. Er brauchte keine zwei Minuten. Die Rechtfertigung ist geglückt. Zumindest für Marco Roitzsch.

Ein Hungriger rüttelt an der Restauranttür. Jetzt erst liest er die Kreideschrift. Auf dem Boden kniend musste Roitzsch am Vormittag eine Niederlage eingestehen: „Wir haben leider noch geschlossen!“ Wortlos malte er in schönen Kringeln die Kapitulation auf die Tafel. Die Eröffnung der „La Galleria“ verzögert sich um eine Woche. Marco Roitzsch klopft sich kräftig auf die Gesäßtasche: „Das tut weh im Portmonee!“ Es fehlt das polizeiliche Führungszeugnis. „Belegart Null“, sagt der Koch. Ärgerlich für ihn, der so gern seinen Gästen ein Filetto di agnello alle Gladiatore, das Gladiatorenfilet aus rosa Lammfleisch, bereiten würde.

Vor zehn Jahren hat Marco Roitzsch als Lehrling im VEB Holzveredelung noch vornehmlich Milchreis angerührt und Jägerschnitzel paniert. Wenn der Lehrling die Pfannen ausgekratzt hatte, eilte er in die „Runde Ecke“ zum Einsatz, dem Leipziger Stasi-Hauptquartier. „Das war ehrenamtlich! Wir haben meist nur Essen und Getränke gekriegt.“ Von wegen Westgeld und so! Die Arbeiter-und-Bauern-Macht hatte in dem jungen Koch einen Überzeugungstäter gefunden.

Auf dem Weg zu diesem Ehrenamt hatte sich Roitzsch 1988 verpflichtet, nach der Lehre für 25 Jahre zur Nationalen Volksarmee NVA zu gehen. Dabei sei es zu einem Gespräch mit den Herren von der Stasi gekommen. Ob denn Interesse zur Zusammenarbeit bestehe, haben die gefragt. Es bestand. Marco Roitzsch lehnt sich zurück: „Man war halt der Meinung, dass man was für seine Heimat tut.“

Als Inoffizieller Mitarbeiter bekam er einen Decknamen und durfte viel für die Heimat tun. Der Lehrling wurde dem Stasi-Dezernat „Feindaufklärung und politische Sabotage“ zugeteilt, bekam das Halfter mit der Walter PPK umgehängt und „für alle Fälle noch zwei Handgranaten“. Na ja, es hätten schließlich Nato-Panzer um die Ecke kommen können.

„Probanden“ gab es viele. Wöchentlich wurden es mehr. „Montag war Hauptkampftag für uns. Da gab es die meisten Zugriffe.“ Marco Roitzsch hat sich zurückgelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. In der Attitüde, die man von Markus Wolf kennt – stolz. Er habe seine Befehle immer erfüllt. Da wurden von seinem Trio dann auch Leipziger verhaftet.

Roitzschs Blick wandert zu den Ölbildern. Am Freitag feierten sie hier Vernissage, eine inoffizielle Eröffnung des Restaurants mit Freunden und Bekannten. Roitzsch konnte zeigen, was er auf der Pfanne hat, und gleich zweimal seine patentierten Wachteln servieren. Die Vögel stopft er mit Kochschinken, Spinat und Mozzarella, bäckt sie im Ofen und präsentiert sie im Kartoffelnest. „Mit Büffelmozzarella! Mit gewöhnlicher kocht doch jeder!“ Das Rezept für die Quaglie ripiene ist unter seinem Namen im Patentamt eingetragen. Wer die Wachteln anbieten will, muss bei Marco Roitzsch eine Lizenz kaufen. Grund genug, am Freitag auch eine Flasche Marchesi di Barolo zu entkorken, eine Leckerei. „119 Mark im Einkauf.“ Sein Lieblingswein.

„Das war eine klassische Konterrevolution.“ Den Begriff Wende gibt es für Marco Roitzsch nicht. Und wenn alle so gekämpft hätten wie er, hätte es sie auch nie gegeben. Ausnahmezustand und Kriegsrecht wären wohl angemessen gewesen. „Unter Umständen wäre auch Blut geflossen.“ Klassenkampf eben. Verluste schrecken da nicht. Weder auf der eigenen noch auf der anderen Seite. Wo der Revolutionshobel ansetzt, fallen blutige Späne. Aber die alten Männer im Politbüro hatten offenbar Schiss. Nein, nein, bei Marco Roitzsch klingt das diplomatisch: „Der Nationale Verteidigungsrat war handlungsunfähig.“ Schade eigentlich.

Er war bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten vor zwei Jahren auf Kuba. Als Sänger flog er auf die Insel, gemeinsam mit seinen Freunden von der „fdj-Singegruppe“. Den Blauhemdverein gibt es noch, wenn auch heute nur noch kleingeschrieben. Tiefrote Aufkleber haben sie auf Kuba verteilt. Roitzsch zückt sein Portmonee, klappt es auf, zack!: „Grupo de Canto Ernesto Che Guevara“. Verwegen und siegesgewiss blickt der revolutionäre Erlöser aus der schnöden Geldbörse. Hier hat der Sozialismus die Macht wieder übernommen.

Sollte es auf Kuba zur Konterrevolution kommen, Meisterkoch Marco Roitzsch würde den Compañeros zur Seite eilen, auch mit Waffe. Eine Walter PPK käme wohl nicht in Frage. Ein G-3-Gewehr schon eher. „Das durchschlägt auf 200 Schritt einen Anderthalb-Meter-Baum“, schwärmt Göran Gauruder, Mitinhaber des „La Galleria“. Anerkennend formt Gauruder mit den Händen einen Stamm. Er war damals noch zu jung, um mit der Waffe die Republik vor feindlichen Elementen zu schützen. Mitreden darf er trotzdem. Man ist sich ja einig. Noch besser als das G-3 nämlich wäre eine Steyr AUG, damit kann man sogar Stinger-Raketen vom Himmel holen. Mit leuchtenden Augen werfen sich Roitzsch und Gauruder Fabrikatnamen um die Ohren. Die amerikanische Klock 18, die italienische Beretta. Die gute alte Kalaschnikow ist für sie offenbar nur Antiquität. Und dann gebe es da noch ein Keramikgewehr, das könne man zwei Tage in Mehl packen, am dritten würde es trotzdem auferstehen und losballern. Pardon, schießen. Ein Kenner spricht korrekt.

Marco Roitzsch ist in die Küche gegangen. Zwischen Kochplatten und Anrichte fingert er ein Paket Bandnudeln aus dem Regal. „139 verschiedene Sorten Nudeln gibt es!“ Kein Zweifel, er wird nur die besten in die Edelstahltöpfe werfen. „De Cecco“-Bandnudeln zum Beispiel. Marco Roitzsch hält das Paket hoch, breit wie Daumen schlingen sie sich unter dem Sichtfenster. Die lässt er direkt aus Italien kommen. Er kennt sich schließlich aus.

Mit den 25 Jahren bei der NVA ist es nichts mehr geworden. Dafür hat die Bundeswehr angefragt. Roitzsch konnte nur lachen: „Gegen diesen Staat würde ich jederzeit die Waffe erheben, aber nicht für ihn“. Und da Zivildienst für ihn Zwangsarbeit ist, ging Roitzsch in den Knast. Neun Monate wegen Totalverweigerung. Eingekerkert eben. Wie Thälmann. Da hatte er Zeit, sich mit der jüdischen Befreiungsbewegung gegen die Römer zu beschäftigen. Das war nach Italien. Jetzt bereitet Marco Roitzsch Ostermärsche vor. Wenn das Restaurant läuft, will er monatlich dem Organisationsverein Geld überweisen.

Neulich drückten Roitzsch und Gauruder noch einmal die Schulbank bei einem Kurs für „Vollzeit-Unternehmensgründer“. Zwischen den vielen Arbeitslosen, die zu diesem Kurs überredet wurden, machten die beiden Bilderbuchunternehmer eine strahlende Figur. Als der Dozent nach den Zielen der Existenzgründer fragte, lieferten sie klare Visionen: In diesem Jahr „La Galleria“, im nächsten Jahr ein zweites, danach ein drittes Restaurant. Schöne Aussichten für Leipzig. Wenn es auf Kuba nicht brenzlig wird.

Sollte es auf Kuba zur Konterrevolution kommen, Meisterkoch MarcoRoitzsch würde den Compañeros zur Seite eilen, auch mit Waffe