„Es gibt kaum noch Hoffnung“

■  Das Erdbeben in der Türkei hat vor allem die armen Bewohner der Vororte der großen Städte getroffen. Zum Teil graben sie mit bloßen Händen nach Verwandten und Freunden

Istanbul (rtr/dpa) – Muzaffer Yarla, Vater von vier Kindern und in den besten Jahren, saß auf seinem Balkon und genoss die frühmorgendliche Brise, die die Luftfeuchtigkeit erträglich machte. Nur eine Minute später brach das siebenstöckige Gebäude in einem Istanbuler Vorort wie ein Kartenhaus zusammen. Yarlas Frau, drei seiner Kinder und seine Schwiegertochter wurden unter den Trümmern begraben. Yarla landete samt seinem Balkon auf der Straße.

Auf einer Bahre liegend und beinahe im Koma starrt er mit Tränen in den Augen auf die Arbeiter, die versuchen, die vermuteten zehn Opfer aus den Trümmern zu bergen – ein Wettlauf mit der Zeit. „Wie viele meiner Angehörigen sind tot“, schluchzt er, „ich fürchte, viele.“

„Die Antwort kennt Gott allein“, meint ein Polizist und zeigt auf die Haufen zertrümmerten Betons und verbogenen Stahls, aus denen Zipfel handgeknüpfter Teppiche herausgucken. „Es gibt kaum nochHoffnung.“ Von der Schaufel eines für die Räumungsarbeiten eingesetzten Baggers fällt das gerahmte Bild eines Schulmädchens mit Pferdeschwanz. Wenige Minuten später stellt der Fahrer den Motor ab. Die Schaufel hat ein Paar nackte Füße berührt. Sie sind regungslos. Es folgt Todesstille. Als die Nachricht zu der wartenden Menge auf der anderen Seite der Polizeiabsperrung durchgedrungen ist, beginnen dort einige Frauen verzweifelt zu weinen.„Mein Halil, meinHalil. Warum musste es so weit kommen“, schreit eine Frau mit einem bunten Kopftuch.

Die Bewohner dieses Stadtteils sind zumeist arme Migranten vom Schwarzen Meer. Ähnliche Szenen spielen sich im ganzen Nordwesten der Türkei ab. Bis zu 6,7 auf der Richterskala soll das Erdbeben erreicht haben. Die Folge: Nach ersten Schätzungen mehr als 500 Tote.

Etwas weiter die Straße herunter hatten die Bewohner eines zerstörten Appartementblocks Glück im Unglück. Ihr Appartement kippte zur Seite weg, so dass sie nicht unter den anderen Etagen begraben wurden. Sie überlebten in kleinen Nischen zwischen den Trümmern.

„Ich will meine Mama“, schreit der fünfjährige Mohammed, als ein Feuerwehrmann ihn befreit. Als er zum Krankenwagen gebracht wird, brüllt der Junge mit dem stark zerkratzten Gesicht und dem staubigen Pyjama unentwegt. Nachbarn haben zuvor seine verletzte Mutter und Schwester aus den Trümmern gezogen, die einst ihr Zuhause waren.

Als dann auch die Füße des Jungen zwischen dem Schutt des einst vierstöckigen Gebäudes sichtbar wurden, begannen sie zu applaudieren.

Das Epizentrum des Bebens war in der Nähe der Industriestadt Izmit, 90 Kilometer östlich von Istanbul. Hier sind ganze Straßenzüge während der nur 45 Sekunden dauernden Erschütterung in Schutt gelegt worden. Helfer schaffen die vielen hundert Verletzten in Privatwagen und Taxis zu den Krankenhäusern – doch auch die hat die Katastrophe regelrecht überrollt. Verletzte liegen mit blutdurchtränkten Notverbänden versehen auf Matratzen in dem Hof vor der städtischen Klinik und warten darauf, dass sich ein Arzt ihre Wunden anschaut. Die Betten im Inneren des Gebäudes sind alle belegt. Bereits gegen Mittag sind in der Stadt Medikamente und Spenderblut knapp.

In der gesamten Region zerbarsten Gebäude und knickten die Minarette Dutzender Moscheen wie Strohhalme ein. In der Nähe von Izmit steht eine Ölraffinerie in Flammen.

In der 10-Millionen-Metropole Istanbul rannten Bewohner in Panik auf die Straßen, als ihre Gebäude zu wackeln begannen. Mindestens 40 Menschen starben in der türkischen Handelsmetropole, die Europa mit Asien verbindet.

Am Tag danach säumen Hunderte verstörter Einwohner die Straßen. Viele von ihnen tragen gerettete Bücher mit sich oder Picknickkörbe mit ihrem letzten Hab und Gut. In Radiosendungen werden sie gewarnt, sich von zerstörten oder beschädigten Gebäuden fernzuhalten. Dennoch beginnen viele, unter den Trümmern nach Angehörigen und Freunden zu graben.

In dem Arme-Leute-Viertel Tuzla warten die Einwohner auf den Beginn der Bergungsarbeiten. „Bis vor kurzem haben wir Geräusche gehört. Mein Freund Saban rief: helft mir! Aber seit einiger Zeit ist er verstummt“, berichtet der Industriearbeiter Birol. Einheimische, die nur von einem einzigen Bulldozer unterstützt werden, räumen Steine weg. Ein professionelles Rettungsteam ist weit und breit nicht zu sehen.

„Katastrophen treffen immer uns kleine Leute“, meint Birol. Erste Eindrücke von den entstandenen Schäden scheinen diese Behauptung zu bestätigen. Die stärksten Zerstörungen werden aus den armen Vororten der großen Städte im Westen der Türkei gemeldet.