Raketenabwehrsysteme leiten weltweite Rüstungsspirale ein

■ Durch die Bedrohung so genannter Schurkenstaaten sehen die USA eine dramatische Veränderung der internationalen Lage. Ein Abkommen mit Japan über ein Raketenabwehrsystem erschwert die Moskauer Gespräche

„Gegen eine Raketenabwehr spricht auch, dass sie nicht funktioniert und dass sie die weitere Abrüstung von Atomwaffen erschweren wird“

Washington (taz) – Der amerikanische stellvertretende Außenminister für Sicherheit und Abrüstung, John D. Holum, hält sich seit Anfang der Woche in Moskau auf, um mit dem neuen russischen Premier Wladimir Putin über Abrüstung zu reden. Es geht um die Ratifizierung des 1993 ausgehandelten Start-II-Vertrages durch die russische Duma, der die Zahl der Atombomben auf 3.000 bis 3.500 reduzieren sollte, sowie um Start III, eine neue dritte Runde der Abrüstungsgespräche über strategische Waffen mit dem Ziel, die atomaren Sprengköpfe auf 2.500 bis 2.000 Stück zu senken.

Während aber Holum in Moskau weilte, geschah an einem anderen Ende der Welt etwas, was die ins Auge gefasste Abrüstung der atomaren Hinterlassenschaft des Kalten Kriegs gefährden könnte. Die USA unterzeichneten am Montag mit Japan einen Kooperationsvertrag zur Entwicklung von Antiraketen-Raketen. Das steht nach Moskauer Auffassung in Widerspruch zu dem 1972 unterzeichneten Anti-Ballistic-Missile-Vertrag (ABM). Holum hatte schon im Januar dieses Jahres in Genf gegenüber Reportern gesagt, dass der ABM-Vertrag als „lebendes und flexibles Dokument“ gesehen werden muss, „das modifiziert werden kann, wenn sich die internationale Lage ändert“.

Die scheint sich nun für die USA grundlegend geändert zu haben – durch die Entwicklung nordkoreanischer Raketen sowie durch die Weitergabe von Raketentechnik an so genannte Schurkenstaaten wie Iran, Irak und Syrien durch Nordkorea und China. Die 1997 verkündete offizielle US-Militärdoktrin – die Notwendigkeit für die USA, zwei lokale Kriege wie den Golfkrieg gleichzeitig führen zu können – wird von einem neuen Bedrohungsszenario abgelöst: von der Furcht vor Raketenangriffen der Schurkenstaaten mit chemischen oder bakteriologischen Massenvernichtungswaffen.

Der Kooperationsvertrag zwischen den USA und Japan ist ein spektakuläres Ereignis, das zwischen zwei spektakuläre Raketenabschüsse fällt: Letzten Sommer feuerte Nordkorea eine seiner weiterentwickelten Dong-Raketen ab, die angeblich einen Satelliten in eine Umlaufbahn befördern sollte und dabei die japanische Insel Honschu überflog. Die CIA fand Trümmer der Rakete 4.000 Meilen weit von ihrem Abschussort im Pazifik, womit klar war, dass Nordkoreas Raketenpotential beachtlich und damit mindestens für Japan eine Bedrohung war. Der zweite Raketenabschuss steht noch bevor. Nordkorea hat wiederholt den Abschuss einer verbesserten Taepodong-Rakete angekündigt, die Hawaii und Alaska erreichen könnte.

Die Unterzeichnung des amerikanisch-japanischen Kooperationsvertrags steht am Ende einer langen Entwicklung, die sich zu einer neuen Rüstungsspirale ausweiten könnte. Nordkorea arbeitet seit 1980 an Interkontinentalraketen und feuerte erstmals 1993 eine Dong-Rakete Richtung Japan ab. 1998 gab Nordkorea erstmals auch zu, Raketen zu exportieren. Zwar hat Nordkorea den USA angeboten, den Raketenexport einzustellen, wenn die USA den Devisenausfall für Korea ersetzen würde. Diese jedoch haben schlechte Erfahrungen bei einem vergleichbaren Deal gemacht, bei dem Amerika Leichtwasserreaktoren an Nordkorea lieferte im Austausch gegen die Abschaltung älterer und unsicherer Reaktoren, in denen atomwaffenfähiges Plutonium erzeugt werden kann. Nach Auffassung der USA hält sich Nordkorea nicht an die Abmachung, sondern entwickelt weiter Atomwaffen.

Auf der anderen Seite streben Japan und Taiwan schon seit 1990 eigene Raketenabwehrsysteme an, um sich gegen nordkoreanische und chinesische Raketen schützen zu können. Damals verhandelten die US-Firma Raytheon und Mitsubishi über den Bau und die Weiterentwicklung der Patriot-Raketen, die im Golfkrieg von sich reden machten. Taiwan entwickelte mit der Tien-Kung-Rakete seine eigene Raketenabwehr.

Die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen empfinden Nordkorea, China und Russland als Bedrohung, und zwar jeweils aus unterschiedlichen Gründen. Nordkorea kündigte im Dezember letzten Jahres einen „chirurgischen Erstschlag“ gegen Japan und Südkorea an. Anlass war wahrscheinlich ein Artikel in der Far Eastern Economic Review, der von einem gemeinsamen amerikanisch-japanisch-südkoreanischen strategischen Konzept für den Fall eines nordkoreanischen Angriffs berichtete. China hingegen fürchtet, dass ein taiwanesisches Raketenabwehrsystem die dortige Regierung zu weiteren Schritten in Richtung Unabhängigkeit von China ermutigen könnte und hält die Einbindung Taiwans in ein japanisch-amerikanisches strategisches Konzept für inakzeptabel. Russland, das heute stärker als die Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges von Atomwaffen abhängig ist, fürchtet, dass derartigeRaketenabwehrsysteme das eigene Abschreckungspotential wertlos machen könnte.

Raketenabwehr ist nun nicht gleich Raketenabwehr. Der ABM-Vertrag unterscheidet zwischen nationaler Raketenabwehr und Gefechtsfeldabwehr. Die USA verstehen Raketenabwehr in Japan und auf Taiwan als taktische Abwehr, die vom ABM-Vertrag nicht berührt wird. In den USA sind allerdings Haushaltsmittel sowohl für nationale Abwehr als auch für Gefechtsfeldabwehr außerhalb des eigenen Territoriums freigegeben worden.

Gegner der Raketenabwehr wie die „Union of Concerned Scientists“ (Vereinigung besorgter Wissenschaftler) aber argumentieren, dass das amerikanische Verteidigungsministerium die Gefahr von Raketenangriffen seitens der Schurkenstaaten maßlos übertreibt: „Koreanische Raketen werden noch 10 Jahre lang nicht startbereit sein und auch dann allenfalls punktuelle Zerstörung anrichten können“, sagt dazu Jonathan Dean. „Gegen eine Raketenabwehr spricht auch, dass sie nicht funktioniert – die meisten Tests haben bisher versagt und der Erfolg der Patriot im Golfkrieg ist übertrieben worden – und dass die Raketenabwehr die weitere Abrüstung von Atomwaffen sowohl auf russischer wie auf chinesischer Seite erschweren wird“.

Peter Tautfest