■ Izmit liegt in Trümmern. Die Industriemetropole im Nordwesten der Türkei sieht aus, als hätte sie ein Flächenbombardement hinter sich. Wie hier ist in Istanbul die Angst vor Nachbeben groß, jeder sucht im Freien die Geborgenheit der Gruppe  Aus Istanbul Jürgen Gottschlich
: Warten auf Hilfe im Vorhof zur Hölle

Hätte Dante im Industriezeitalter gelebt, er hätte sich die Hölle so wie in Izmit vorgestellt. Überall liegen Trümmer herum, überall irren Leute umher. Niemand weiß, warum ausgerechnet sein Haus in sich zusammenfiel, während das Haus des Nachbarn noch steht. Die meisten Straßen sind unpassierbar. Es gibt keinen Strom, kein Wasser. Das Kommunikationssystem ist zusammengebrochen. Auch die zahllosen Handys geben keinen Ton mehr von sich. Licht gibt es lediglich durch den Widerschein eines riesigen Feuers am Horizont. Verzweifelt versuchen einzelne Menschen, mit bloßen Händen Angehörige aus den Trümmern ihrer Häuser zu bergen.

Auch 15 Stunden nach dem Erdbeben im Nordwesten der Türkei sind organisierte Rettungsmannschaften in Izmit kaum anzutreffen. Die wenigen Bagger und Bulldozer werden von Leuten belagert, die alle das lebensrettende Gerät zu ihrem Haus, zur Bergung ihrer Familienangehörigen dirigieren wollen. Von einzelnen Orten solch hektischer Betriebsamkeit abgesehen, herrscht eine gespenstische Stille. Auf den Plätzen, in den Grünanlagen der Stadt, drängen sich die Menschen apathisch aneinander. Jeder sucht den Schutz und die Geborgenheit der Gruppe. Die meisten sind wie vor den Kopf geschlagen, können ihr Unglück noch gar nicht fassen.

Izmit, die Industriestadt am Marmarameer, wurde in 40 Sekunden zerstört. Seit dem Beben in der Nacht von Montag auf Dienstag brennt die größte Ölraffinerie der Türkei am Stadtrand. Von den über 30 riesigen Tanks stehen am Mittwochmorgen vier in Flammen. Bitterlich beklagte der Direktor der Anlage, dass in den ersten Stunden nach dem Brand kein Versuch unternommen worden sei, das Feuer zu löschen. Die Angestellten hätten sich stattdessen um ihre eigenen Häuser gekümmert. Versuche, das Feuer am Mittwoch mit Löschflugzeugen einzudämmen, wirken wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Mittlerweile sind US-amerikanische Spezialisten in Izmit eingetroffen, die nun retten sollen, was noch zu retten ist – sollte das Feuer sich ausbreiten, kann die ganze Anlage in die Luft fliegen.

Die Lebensader der Türkei ist fast vollständig zerstört

Die Industriemetropole Izmit lag im Epizentrum des Bebens. Doch der schlimmste Stoß aus 17 Kilometern Tiefe, den die Türkei je erlebt hat, ging weit über Izmit hinaus. Allein im ersten konzentrischen Kreis, in dem das Erdbeben eine Stärke von bis zu 7,8 auf der Richterskala erreichte, leben 40 Prozent aller Einwohner des Landes. Istanbul, die 15-Millionen-Metropole, war nur 80 Kilometer vom Epizentrum entfernt.

Es grenzt an ein Wunder, dass Istanbul das Beben nahezu unbeschadet überstanden hat. Von den 250 Toten in der Metropole hat es die meisten in einem westlichen Vorort, in Avcilar, getroffen. Avcilar liegt auf einem tektonischen Bruch, der sich durch die Stadt zieht. Eine zweite Bruchlinie, die entlang der Istanbuler Küste parallel zur Stadt verläuft, blieb wundersamerweise ruhig.

Dagegen ist das Istanbul gegenüberliegende Ufer des Marmarameeres mit am stärksten betroffen. Yalova, der Fährhafen, über den der gesamte Verkehr von Istanbul nach Süden abgewickelt wird, liegt in Trümmern. Die sich östlich anschließende Stadt Gölcük ebenfalls. In Gölcük befindet sich einer der größten Flottenstützpunkte der Türkei und die Marineakademie. Die Stadt wurde unmittelbar nach dem Beben von einer Flutwelle getroffen, die den gesamten Uferstreifen verwüstete. In den Trümmern der Marinebasis wurden über 260 Soldaten und hohe Offiziere verschüttet. Bis Mittwochmorgen wurden immer noch über 200 Menschen unter den Trümmern vermutet.

Erst ein Blick auf die Karte der Türkei macht das ganze Ausmaß des Desasters deutlich. Die Lebensader des Landes, die Strecke Istanbul–Ankara, die Region, in der sich der überwiegende Teil der Industrie und Infrastruktur der Türkei befindet, ist fast vollständig zerstört. Von Zonguldak am Schwarzen Meer bis Ankara, fast 300 Kilometer vom Epizentrum entfernt, schwankten die Häuser. Entlang der großen Autobahn, die Istanbul mit Ankara verbindet, zieht sich ein Band der Zerstörung durch das Land.

Die Stadt, die am weitesten vom Epizentrum entfernt und noch zerstört wurde, ist Bolu. Bolu mit seinen rund 50.000 Einwohnern liegt 1.200 Meter hoch in einem Skigebiet auf dem Weg von Istanbul nach Ankara. Die Stadt war am Dienstag nicht zu erreichen. Eingestürzte Brücken und klaffende Risse hatten die Straßen unpassierbar gemacht. Die Autobahn und die parallel dazu verlaufende vierspurig ausgebaute Landstraße – die alte Hauptachse zwischen den beiden größten Städten des Landes – sind die wichtigsten Verkehrsverbindungen der Türkei. Von Osten nach Westen gibt es praktisch keine Alternative.

Entsprechendes Chaos herrschte am Dienstag auf den Straßen. Das Erdbeben hat das Land in der Haupturlaubszeit erwischt. Fassungslos hörten die Leute am Dienstagmorgen in den Badeorten am Schwarzen Meer, dass ihre Heimatstädte in Trümmern liegen. Hektisch wurde gepackt, jeder wollte wissen: Leben meine Angehörigen, steht unser Haus noch. Telefonisch war nichts zu erfahren. Das Handy suchte vergeblich nach einem „Network“, und die Schlangen vor den Telefonzellen wurden immer länger, weil verzweifelte Menschen wieder und wieder versuchten, eine Verbindung zu bekommen.

Stattdessen machte sich dann jeder auf den Weg. Je näher die Autobahn kam, umso größer wurde das Gedränge. Leute, die nach Westen fuhren, trafen auf Menschen, die aus dem Erdbebengebiet flüchteten. Autobahn und Bundesstraße waren immer nur streckenweise passierbar.

Wenn Izmit die Hölle ist, ist Adapazari der Vorhof. 20 Kilometer vor der Stadt hat die Polizei die Bundesstrasse gesperrt, um Platz für Ambulanzen und Rettungsmannschaften zu machen. Die Leute stecken im Stau und müssen im Radio mit anhören, wie die Bewohner von Adapazari zunehmend verbittert die ausbleibende Hilfe beklagen. „Hier kommt nichts an“, schreit ein Radioreporter tief betroffen in sein Mikro, „die Stadt verreckt unter den Trümmern. Es gibt kein Wasser, keine Lebensmittel und keine Bergungshilfe“. Eine halbe Stunde später kreisen Hubschrauber über der Stadt und bringen Decken und Zelte.

Als Stunden später eine Straße durch Adapazari freigegeben wird, quält sich die Autoschlange durch eine Stadt, die aussieht, als hätte sie gerade ein schweres Flächenbombardement hinter sich. Häuser sind einfach nach vorne auf die Straße gekippt, zerfetzte Elektrokabel hängen in der Luft, geköpfte Minarette bilden eine surrealistische Silhouette.

Ab Adapazari geht es nur noch über Nebenstraßen nach Istanbul. Mitten durch die Bergdörfer verläuft die Schneise der Zerstörung. Und überall provisorische Unterkünfte. Die gesamte Nordwest-Türkei hat sich in einen gigantischen Campingplatz verwandelt. Angesichts der Straßenverhältnisse und des riesigen vom Beben betroffenen Gebietes ist es kein Wunder, dass es überall an Rettungsmannschaften und Bergungsgerät fehlt.

Während die Zahl der Toten wie der Pegel bei Hochwasser mit jeder Stunde steigt, treffen auch die ersten Hilfslieferungen aus dem Ausland ein. Auf einer Sondersitzung des Kabinetts am Dienstagabend werden sämtliche betroffenen Provinzen zu Notstandsgebieten erklärt und den Gouverneuren damit die Vollmacht erteilt, auch private Transportkapazitäten einzusetzen oder Ärzte zum Einsatz heranzuziehen.

Noch steht das Land so sehr unter Schock, dass über Ursachen und Konsequenzen nur am Rande geredet wird. Schlecht gebaute Häuser sind natürlich einer der Gründe für das Ausmaß der Katastrophe. Aber in Istanbul ist beispielsweise der reiche Stadtteil Avcilar weit stärker betroffen als etliche Slumsiedlungen. Trotzdem wird das Beben für die Bauindustrie sicher ein Nachspiel haben. Nach dem vergleichsweise kleinen, lokal begrenzten Beben in der südtürkischen Stadt Ceyhan im Juni letzten Jahres wurden zehn Baufirmen wegen nachlässiger Ausführung angeklagt. Das wird sich in den kommenden Monaten in potenzierter Form zweifellos wiederholen. Trotzdem fällt auf, dass die Zahl der Toten, auch wenn man noch nicht weiß, wie viele es letztlich sein werden, angesichts der Größe des betroffenen Gebietes verhältnismäßig gering ist. So hat das bislang schwerste Beben in der Türkei, 1939 in Erzincan, noch 33.000 Tote gefordert, obwohl die Gesamtzahl der von dem Erdbeben betroffenen Menschen viel geringer war als heute.

Aus Angst vor Nachbeben schlafen die Leute am Meer

Welche Fabriken, Kommunikationslinien, Straßenverbindungen, Kraftwerke usw. zerstört worden sind, wird eine Schadensaufnahme in den nächsten Wochen zeigen. Sicher ist, dass das industrielle Herz der Türkei getroffen wurde. Mehr als zwei Drittel aller Güter werden in dieser Region produziert. Auch deshalb hat Ministerpräsident Ecevit, dessen Regierung im Moment durch harte Schnitte ins soziale Netz versucht, den Auflagen des Weltwährungsfonds nachzukommen, von einer nationalen Katastrophe gesprochen.

Welche wirtschaftlichen Folgen das Beben für die Türkei haben wird, lässt sich noch nicht ermessen. Noch wird die ganze Region von Hunderten von Nachbeben erschüttert. Die Leute haben Angst, ihre Häuser zu betreten, das Leben steht weitgehend still. Im Fernsehen wird ständig über Nachbeben spekuliert, der Leiter des Seismologischen Instituts will verständlicherweise noch keine Entwarnung geben. Nach wie vor verlassen noch Millionen Istanbuler ihre Häuser, um auf Kinderspielplätzen oder am Meer zu übernachten. Wenigstens die Lebensmittelläden haben wieder geöffnet, und nach und nach wird die Stromzufuhr für die Metropole in Gang gesetzt. Istanbul hat wieder Licht.