Poetisches Labyrinth

Josef Nadj und Compagnie eröffnen heute Abend mit ihren „Commentaires d'Habacuc“ auf Kampnagel das Sommertheater-Festival  ■ Von Annette Kaiser

Eine überdimensionale Schublade öffnet sich, schwarz beanzugte Gestalten quillen daraus hervor und werden von ihresgleichen wieder hineingestopft, um in Zeitlupentempo abermals ausgespuckt zu werden. Oft verlieren diese Gestalten den Kopf – weil sie ihn entweder unter dem Arm eingeklemmt haben, damit unter dem Tisch verschwinden und nur die Hände ein Zwiegespräch auf der Tischplatte halten lassen, oder weil er als Tablettauflage für die Kristallgläser dient.

Im (Theater-)Kosmos des Josef Nadj gelten eigene Gesetze: Die Zeit wirkt gerafft oder gedehnt. Die Schwerkraft scheint außer Kraft gesetzt, wenn die Figuren leicht zu Boden fallen, den Fall jedoch sofort verwinden und – wie Marionetten an seidenen Fäden – aufgehoben werden. Die Bewegungen geschehen immer entgegen der Vorstellung dessen, was man gerade erwartet.

Das Theater des Josef Nadj ist ein Theater der Geste. Möge man es mit Tanztheater, mit Kafka, mit surreal umschreiben – das alles ist richtig. Aber es ist mehr. Wenn Haltungen vorgeführt werden, die nicht einzuordnen sind in eine konkrete menschliche (oder gar tiersche?) Welt, wenn Darsteller wie Puppen von anderen hingesetzt (und wieder aufgestellt) werden, so kann das politisch gelesen werden als Aufeinandertreffen von Willkür und Willenlosigkeit. Oder auch ganz anders.

Und das eben ist die Qualität, die Nadjs Theater ausmacht: dass die szenischen Bilder, die erzeugt werden, Metaphern sind, offen für ein zweites Bild, das im Kopf des Zuschauer entstehen kann, und nicht festlegend, mithin reduzierend, auf einen Gehalt. Das Theater Josef Nadjs appelliert an einen mündigen Zuschauer – und lässt ihn auch zu, weil es ihn nicht ästhetisch-unterhaltend zukleistert. Seine Zeichensprache ist nicht einengend, weil sie nie manisch-beklemmend ist und durch – beispielsweise – das Mittel der Wiederholung eine Sisyphos-Situation andeutet, allerdings in ihrer baldigen Auflösung nicht darauf beharrt.

Es macht Sinn, dass das 16. Internationale Sommertheater-Festival mit Josef Nadjs Les Commentaires d'Habacuc eröffnet. Seit 1988, als Nadj und Compagnie mit Canard Pékinois, seiner ersten Inszenierung, und 7 peaux de Rhinocéros in der Hansestadt wahre Triumphe feierte und den Pegasus-Preis des Festivals davontrug, kam er viele Male – stets mit neuen Stücken.

Der in Ungarn aufgewachsene gebürtige Jugoslawe studiert zunächst Kunst. 1980 ging er nach Paris, um sich verstärkt dem Theater zu widmen, und entdeckt dort den Tanz. 1986 gründete er seine eigene Compagnie, und 1995 wurde er Leiter des Centre Choreographique National d'Orleans.

Zu Les Commentaires d'Habacuc, der Produktion, die 1996 im Rahmen des Festivals in Avignon entstanden ist und heute Abend in Hamburg zu sehen sein wird, ließ sich Nadj von den Kommentaren des alttestamentarischen Propheten Habakuk inspirieren, welcher dem Land Israel Unglück verheißen haben soll. Der Choreograph selbst nennt den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges als weitere Inspirationsquelle. Dabei ist die Vorstellung vom Labyrinth für ihn – in Anlehnung an Borges – zentral: Josef Nadj will mit seiner Theaterarbeit eine Art poetisches Labyrinth schaffen. Bonne soirée!

heute und 21. August, jeweils 20 Uhr, Kampnagel-Halle 6, Karten 40, 30, ermäßigt 20 Mark