Halb springt er, halb ringt er sich in die Grube

Der Berliner Weitspringer Kofi Amoah Prah hofft, dass bei der Leichathletik-WM endlich einmal alles zusammenpasst. Denn was so banal aussieht, ist eine pausenlose Tüftelei um die richtige Balance zwischen Technik, Geschwindigkeit und Kraft    ■ Von Rüdiger Barth

Der Mann springt weiter, als ein Fußballtor breit ist. 8,19 Meter. Fast einen Meter weiter. Man muss sich das einmal in Zeitlupe ansehen. Wie Kofi Amoah Prah noch fünf Schritte vom Brett entfernt ist, wie sein Gesicht zur Maske erstarrt, wie die Augen stieren.

Eine Sekunde bleibt ihm jetzt noch bis zur Explosion. Eine Sekunde bis zu dem Moment, in dem er bei Tempo 35 sein ganzes Gewicht auf das Sprungbein verlagert, um sich aus dem gebeugten Knie heraus zu katapultieren. Nur in Zeitlupe sieht man, wie die Schenkel unter der Last erzittern, das Brett sich biegt und die Muskeln hervorquellen.

Ein heißer Tag Anfang August, mitten im Berliner Sportforum. Links bröckelt sozialistischer Beton, rechts glitzert ein bisschen Glasfront-Moderne. Prah lässt sich ins Gras neben der Weitsprunggrube fallen und streicht das Leoparden-Hemd glatt, gerade hat er es von der Reinigung abgeholt. „Das ist so schön animalisch“, sagt er, „ich liebe es.“ Gerne kokettiert Prah mit diesem Image. Aber heute wird er das Hemd nicht anziehen: Es ist zu heiß in Berlin, zu heiß für ein Leoparden-Hemd. Sevilla-Wetter.

Sevilla, Spanien. Noch vor zwei Jahren galt der Weitsprung in Deutschland als klinisch tot, kein Athlet durfte mit nach Athen. Und jetzt sind gleich zwei bei der WM dabei, der erfahrene Thüringer Konstantin Krause (31) und eben der Berliner Kofi Amoah Prah, 24 Jahre alt, Europacup-Zweiter und so etwas wie ein Hoffnungsträger des DLV. Bei den deutschen Meisterschaften hatten sich beide ein famoses Duell geliefert. Krause sprang 8,21 Meter, nur zwei Zentimeter weiter als Prah, der seine Bestleistung leicht windbegünstigt auf 8,19 Meter steigerte. Das Publikum tobte.

„Wenn man den Zuschauern einen Achter vorsetzt“, sagt Prah und damit meint er einen Sprung jenseits der magischen Acht-Meter-Grenze, „dann packt man sie. Dann gibt es nur noch uns Springer und diese Grube.“ So euphorisch erzählt der Mann vom LAC Halensee von diesem Wettkampf, und seine Hände reden dabei ständig mit. Er genieße es, seinem Gegner in die Augen zu sehen. „Ich muss provoziert werden, dann haue ich einen guten Sprung raus.“

Im Sportforum, auf dem alten Dynamo-Gelände, steht die Luft. Immer wieder schleudert Prah eine Vier-Kilo-Kugel aus dem Ring. Immer wieder hüpft er über Hürden, aus den Fußgelenken, einfach so, als wäre das nichts. Bei jeder Bewegung wölben sich die Muskeln unter der dunklen Haut, glänzen seine Schultern in der Sonne. „Ich bin müde“, sagt Prah danach. Es klingt verächtlich, so als verabscheue er seinen inneren Schweinehund. „Wer im Training zufrieden ist, schont sich“, sagt er.

Warum auch quält er sich mit der einfachsten und zugleich schwierigsten Disziplin der Leichtathletik? Wer beim Weitsprung nicht anläuft wie wild, kommt nicht auf Weite. Wer aber sein Tempo nicht kontrolliert, verpatzt den Absprung. Dieses Dilemma – das Dilemma jedes Springers – sieht der Zuschauer nicht. Er sieht nur, dass da einer spurtet und hopst. Banal. Und wenn einer 8,19 Meter springt, dann muss er doch bitte schön auch mal 35 Zentimeter weiter fliegen können. Was ist denn so weit am deutschen Rekord von 8,54 Meter, den Lutz Dombrowski 1980 sprang?

„Drauf habe ich ihn“, sagt Prah über den Rekord und nennt Kraftwerte. „Da macht mir weltweit keiner was vor.“ Es klingt nicht einmal anmaßend, wenn er das so sagt. Seine 73 Kilo verteilen sich auf 1,75 Meter. Aus dem Stand springt er achtzig Zentimeter hoch, ein menschlicher Flummi. Was fehlt also? „Die Technik“, sagt Prah, und das sagt auch sein Trainer Klaus Beer.

Beim Weitsprung kommt es auf den Rhythmus an, auf das Zusammenspiel von Tempo, Schrittfolge und Präzision. Der letzte Schritt vor dem Balken ist der wichtigste: Auf keinen Fall darf er zu lang sein, weil sonst die Schnellkraft verpufft, aber auch auf keinen Fall zu kurz, weil sonst Anlaufgeschwindigkeit flöten geht.

Der vermaledeite Balken. Jeder Springer hasst ihn, jeder verehrt ihn. Denn wer ihn verfehlt, tritt über oder verschenkt wertvolle Zentimeter. Aber wer ihn trifft, voll trifft, der spürt, wie das Holz die Energie aufnimmt und zurückwirft. Das, sagt Prah, ist dann das große Gefühl. Und jetzt kommt erst noch der Kampf gegen die Schwerkraft: die schnellen Schritte in der Luft, die knochenverrenkende Landung. „Weitsprung ist Ringen mit dem eigenen Körper. Das fasziniert mich“, sagt er.

Passt diese Detailliebe zu einem, der sich vor eine rappelvolle Tribüne stellt wie ein Animateur? „Das gehört zum Sport“, sagt er, „als Mensch ist mir das nicht wichtig.“ Die andere, die extrovertierte Seite des Kofi Amoah Prah zeigt sich nicht im Gespräch; er denkt nach, bevor er redet. Der Bürokaufmann arbeitet in der Kundenbetreuung der Berliner Lottogesellschaft. Deswegen hat die FAZ ihn zum „Glücksboten“ ernannt. „Was für ein Quatsch“, sagt Prah.

Aus Ghana in Westafrika stammen seine Eltern. Vater Prah fuhr den ghanaischen Botschafter durch Ost-Berlin, und daher wuchs Kofi in der DDR auf. Er war 14, als die Mauer fiel; es berührte ihn kaum: „Wir durften ja in den Westen reisen“, sagt Prah. Im Ostteil der Stadt lebt er immer noch, im Szeneviertel Prenzlauer Berg, nicht allzuweit entfernt vom Sportforum.

Vor jedem Wettkampf geht er zu seinem Vater, der ein gläubiger Katholik ist. „Er betet für mich'', sagt Prah ganz leise, „und ich glaube fest, dass es mir hilft.“ Seine Eltern seien stolz, dass er für Deutschland startet, sagt er. Er sehe sich nicht als Heimatloser, im Gegenteil, „ich fühle mich als Afro-Deutscher. Wie ich mich verhalte, spreche, denke: Da bin ich richtig deutsch.“ Ghana hat er erst einmal besucht, als Fünfjähriger. Gerne reiste er noch einmal hin, aber für drei Wochen nach Afrika, das gehe nicht. „Das Klima würde mir zusetzen. Das muss noch warten.“ Aber wenn er Sammy Kuffour sieht, den ghanaischen Abwehrrecken von Bayern München, der weint, wenn er vom Platz gestellt wird, erinnert ihn das an ihn selbst: „Afrika, das ist Herz. Gefühle offen zu zeigen, das ist das Afrikanische an mir.“

Gerne würde man ihn afrikanisch jubeln sehen bei der WM in Spanien, nach einem dieser perfekten Sprünge, von dem alle Athleten träumen. So einem, wie er Bob Beamon 1968 in Mexiko gelang, dessen 8,90 m 23 Jahre lang keiner übertraf. Prahs Trainer Klaus Beer war damals Olympia-Zweiter – mit 8.19 m. Der mehrfache DDR-Meister ist kein Mann der vielen Worte. Lieber trainiert der 56jährige im Sportforum die Berliner Weitsprung-Talente. Wird Prah eines Tages weiter kommen als er damals? „Mal sehen, was noch in ihm steckt“, sagt Beer. Er schaut zu seinem Schützling hinüber, der jetzt wie in Zeitlupe seinen Anlauf probt. Kurz scheint es, als wolle er Prah loben und sagt dann doch nur: „Er ist ein fleißiger Junge.“