■ Trotz der Auflösung des traditionellen Koordinatenkreuzes: Politische Kontroversen wird es auch in Zukunft geben
: Zur Mitte verdammt

Die breite Mehrheit will die schiere Unmöglichkeit: dass alles bleibt, wie es ist

Die Linke kann es schon nicht mehr hören, die Rechte ist neidisch, und die in der Mitte fragen sich, einmal dort angekommen, wie sie sich von der Konkurrenz unterscheiden können und welche Handlungsspielräume ihnen noch bleiben. Seit den 90er-Jahren drängen die Parteien mit einer nie gekannten Vehemenz in die so genannte politische Mitte. Der alte Stolz der Konservativen, rechts zu sein, der Anspruch der Sozialdemokraten, die Republik von links zu verändern, der Traum der grünen Bewegung, überall und nirgends, auf jeden Fall aber „vorne“ und auf Seiten der Wahrheit zu sein: all das ist Schnee von gestern, ist Schall und Rauch.

„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Mitte“, wäre die zeitgemäße Abwandlung des alten Wortes von Kaiser Wilhelm II. Das traditionelle politische Koordinatenkreuz hat sich aufgelöst oder ist in Auflösung begriffen. Warum? Die übliche Antwort, dass man heutzutage nur noch dann politische Macht erringe, wenn man die politische Mitte glaubhaft für sich reklamieren könne, beschreibt nur das Phänomen, aber erklärt es nicht.

Die parlamentarische Demokratie Europas ist untrennbar mit der Industrialisierung verbunden. Die entfesselte technische Entwicklung hat im 18. Jahrhundert zwar ein überkommenes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zerstört, sie hat aber auch ein neues, für lange Zeit stabiles System geschaffen. Große Fabriken mit tausenden von Arbeitern und ausufernde Bürokratien mit Millionen Beamten waren die Kennzeichen der neuen Gesellschaft. Bis hinein in die 70er-Jahre waren Lebensläufe völlig normal, in denen die Männer mit 14 oder 15 Jahren in die Fabriken eintraten oder bei Post und Bahn ihre Laufbahn begannen, um dann nach 50 Dienstjahren bei derselben Firma in Rente zu gehen.

Diese wirtschaftlichen Grundlagen haben Inflation und Depression genauso überstanden wie Weltkriege, Diktatur und Zerstörung, sie funktionierten mindestens 120 Jahre nach demselben Strickmuster. Dieses Muster bestimmte den Rhythmus der Menschen, kannte ein eindeutiges Oben und Unten, schuf eindringliche Klischees und entwickelte so ein festes Koordinatenkreuz, in dem sich die Menschen – auch wenn sie es verändern wollten – zurechtfanden.

Die Welt war auch in einem anderen wichtigen Punkt noch einfach geregelt: In Deutschland wohnten die Deutschen, die Franzosen saßen links vom Rhein, die Russen im Osten und die Italiener jenseits der Alpen. Hinzu kam nach 1945 die klare Unterscheidung zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und Kapitalismus. In einer so geordneten Welt mit klaren Fronten konnten auch die Parteien klare Positionen beziehen. Sie suchten ihre Wähler in ganz bestimmten gesellschaftlichen Schichten und kämpften für deren konkrete Belange. Die Verhältnisse erschienen starr, die Politik konnte tanzen.

Der historische Sieg der Marktwirtschaft über die Planwirtschaft, die wirtschaftliche Prosperität breiter Schichten in marktoffenen Ländern, addiert mit den Erkenntnissen der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaften, lassen als Alternative zu Demokratie und Marktwirtschaft nur noch Diktaturen oder religiöse Fundamentalismen als denkbar erscheinen. Dass diese Alternativen weder akzeptabel sind noch als dauerhaft durchsetzbar bzw. nachhaltig gelten, hat Francis Fukuyama zur – inzwischen widerrufenen – These vom Ende der Geschichte verleitet. Die Alternativlosigkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems ist deshalb ein wichtiger Grund, warum alle demokratischen Parteien der Bundesrepublik in der Mitte stehen.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund: die Auswirkungen der drei Revolutionen, deren Zeitzeuge wir werden, auf die Gesellschaft. Es handelt sich um die Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien, der Biologie mit ihren rasant wachsenden Zugriffsmöglichkeiten auf jegliches Erbgut und der – wirtschaftlichen und kulturellen – Globalisierung. Alle drei Revolutionen untergraben ihrerseits überkommene Koordinatensysteme und erodieren Grenzen, die in der Menschheitsgeschichte bisher als unverrückbar galten.

Einerseits also ist der reale politische Spielraum dessen, was als vernünftig erscheint, wesentlich kleiner geworden. Andererseits muss sich die gesamte Menschheit im nächsten Jahrhundert vollkommen neu justieren, was ihre Rolle und ihre Möglichkeiten auf diesem Planeten betrifft. Letzteres bedeutet nichts anderes, als dass die Vorstellungen, die wir über unsere Welt entwickelt haben, größten Veränderungen unterworfen sein werden. Verglichen mit der alten Sicherheit von oben und unten, von bösen Kapitalisten und guten Sozialisten, von rückwärts gewandten Konservativen und fortschrittlichen Aufklärern, herrscht heute die reinste Unordnung. Nicht mehr die Politiker, sondern die Verhältnisse tanzen.

Diese neue Unordnung verunsichert mehr und mehr die Menschen. Sie suchen für ihr Leben festen Boden und spüren, dass es diesen festen Boden immer weniger gibt. Also klammern sie sich an das, was sie kennen. Die breite Mehrheit will die schiere Unmöglichkeit: dass alles so bleibt, wie es ist. Notwendige Veränderungen, die die Politik gestalten müsste, werden als bedrohlich empfunden. Die Wähler erwarten von den Politikern keinen Fortschritt mehr, sondern nur noch, dass diese ihnen in der grassierenden Weltunordnung einen sicheren Hafen bieten.

Der politische Spielraum dessen, was als vernünftig erscheint, ist kleiner geworden

Alles zieht, alles treibt so zur Mitte hin. Die Unterschiede zwischen den Parteien verwischen sich. Sogar die PDS ist bei der Reform des Rentensystems inzwischen de facto an die Seite der FDP getreten (Mindestrente für alle, alles andere wird privat finanziert), da mag der Gregor Gysi noch so heftig den demokratischen Sozialismus beschwören. Die Mitte allerdings ist größer geworden, deckt ein breiteres Spektrum ab als früher, teilt sich in neue und alte Mitte, in linke und rechte.

Das Sommertheater der SPD ist ein schönes Beispiel dafür, dass wir nicht fürchten müssen, es gebe in Zukunft keine politischen Kontroversen mehr. Allerdings: Verglichen mit früher sind die Unterschiede zwischen den Grünen und der SPD, zwischen den Teilen der PDS, die in der Demokratie angekommen sind, und der CDU längst nicht mehr so groß, wie man uns glauben machen will. Ein Grund übrigens, warum Personen und Persönlichkeiten in Zukunft noch wahlentscheidender sein werden als heute schon.

Und wer weiß? Vielleicht lösen sich sogar eines Tages die Parteien auf und formieren sich neu nach dem Motto: Realos – beziehungsweise Fundamentalisten – aller Parteien, vereinigt euch! Christoph Nick