■  Die deutsche Poplandschaft ist deutscher geworden. Bands, die in deutscher Sprache singen, sind keine schutzbedürftige Gattung mehr, sondern Kassenschlager. Im Vorfeld der Popkomm, Europas größter Musikmesse, die gestern in Köln eröffnet wurde, waren die Meinungen geteilt: Ist das Provinzialisierung oder neue Normalität?
: Rödelheim statt Seattle

Über welche Stars wird auf den Schulhöfen geredet? Welches sind die Pop-Ereignisse, die deutsche Teenager umtreiben? Bravo bringt es an den Tag: Große Geschichten kündeten in den vergangenen Wochen vom Rap-Streit zwischen Oli P. und Thomas D. („Thomas, hör auf, Oli zu dissen“), von der Teenieband Echt („Wir werden unsere WG auflösen“) oder vom Freundeskreis-Sänger Max Herre („Der Jesus von Benztown“). Das sind die Helden der Viva-Generation und ihre Dramen.

Auffällig daran ist: Alle Interpreten kommen aus Deutschland, singen auf Deutsch, und außerhalb des deutschen Sprachraums sind sie praktisch unbekannt. Drei Jahre nachdem der Deutsche Rockmusikverband (DRMV) im Vorfeld der Musikmesse Popkomm mit der Forderung nach einer Radio-Quote für deutschsprachige Produktionen an die Öffentlichkeit trat, hat sich zwar nicht die umstrittene Quotenvision erfüllt, wohl aber die damit verbundene Hoffnung: German Pop is here to stay. Nachwuchsbands, die in deutscher Sprache singen, sind keine schutzbedürftige Gattung, sondern Kassenschlager. Und nichts deutet darauf hin, dass es sich dabei um ein künstlich geschürtes Strohfeuer handelt. Der Deutschrocker Heinz-Rudolf Kunze, der sich einst für die Quote am weitesten aus dem Fenster lehnte, müsste beim Blick in die Bravo eigentlich beruhigt sein: Man hört Deutsch.

Der deutsche Anteil an den 100 meistverkauften Alben liegt derzeit bei rund einem Drittel, gleichauf mit Platten aus den USA. In den Singles-Charts sind Hits aus heimischer Herstellung sogar führend. Und auch wenn nur die Hälfte dieser Produktionen in deutscher Sprache sind – vor allem deutsche Dance-Projekte setzten lieber auf Balla-Balla-Englisch –, so ist die Tendenz klar. Vor zehn Jahren noch war diese Entwicklung nicht abzusehen. Heute füllen nicht nur Mainstream-Größen wie Westernhagen und Wolfgang Petry, Pur, Rammstein, die Toten Hosen oder die Ärzte locker Arenen. Auch deutschrappende HipHop-Acts fanden sich diesen Sommer oft als Festival-Headliner wieder.

Gründe für dieses Phänomen gibt es viele. Der vor sechs Jahren gegründete Musiksender Viva hat viel dazu beigetragen, dem Pop aus deutschen Landen zum Durchbruch zu verhelfen. Der Videoclip-Kanal spult auch ohne Quote rund 40 Prozent deutscher Produktionen ab, mit oder ohne deutsche Texte. Und ohne Viva geht heute gar nichts mehr, will man in Deutschland einen Hit bei der Teenie-Klientel landen. Die Präsenz inländischer Musiker, ihre Verfügbarkeit für Interviews und Konzerte sind ebenfalls von Vorteil für die Karriere, zumal auch die Ausländersteuer dazu beiträgt, die Konkurrenz auf den Konzertbühnen einzudämmen. Außerdem ist die hiesige Industrie professioneller geworden. „Lola rennt“ war der erste deutsche Film, bei dem Marketing, Musik- und Filmproduktion Hand in Hand gingen, der Titelsong fand sich schon vor dem Filmstart in den Viva-Charts. 1999 wird auf der Popkomm der Streifen „Bang, Boom, Bang – Ein todsicheres Ding“ präsentiert, der den „Lola“-Erfolg wiederholen soll. Der Titelsong stammt von den H-Blockx aus Hannover.

Sicher ist die deutsche Pop-Landschaft in den letzten Jahren deutscher geworden. Aber sie hat sich auch erheblich ausdifferenziert, „deutscher Pop“ ist nicht mehr so leicht auf einen Nenner zu bringen. Da gibt es HipHop von den Fantastischen Vier, Freundeskreis oder den Absoluten Beginnern, der mit dem in US-Ghettos entstandenen Genre hauptsächlich den Namen gemein hat. Und da gibt es die „Neue Deutsche Härte“ der düsteren Industrial-Kapelle Rammstein und die akademisch-alternative Abteilung der als „Hamburger Schule“ apostrophierten Bands wie Tocotronic oder Blumfeld.

Bei den Musikern herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich importierte Pop-Modelle eben nicht eins zu eins auf deutsche Gegebenheiten übertragen lassen. „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“, sangen etwa Tocotronic. Und der Sänger Xavier Naidoo coverte auf seinem ersten Album nicht zufällig den Song „This is not America“. Vor allem die Pop-Linke aber hatte stets auch so ihre Schwierigkeiten mit dem neuen deutschen Pop-Wunder, schließlich will man jedwede Deutschtümelei vermeiden. „Ich scheiß auf deutsche Texte“, skandierten die Sterne in einem ihrer Songs, und Tocotronic sorgten 1996 bei der Popkomm für einen Mini-Eklat, als sie den von Viva gestifteten Komet-Musikpreis zurückgehen ließen. Sie wollten keine Auszeichnung dafür, „jung und deutsch“ zu sein.

Der Trend zum Lokalen zeugt jedoch nicht von einem deutschen Sonderweg, sondern ist Teil eines globalen Trends. Weltweit differenzieren sich nationale Popmärkte heraus, die vor Ort durch Medien und Musikindustrie definiert werden. Ob Japan oder Spanien, Indien oder Brasilien – überall befindet sich lokal produzierte Popmusik im Aufwind. Man hört Madonna und den Titanic-Soundtrack, ansonsten bevorzugt man einheimische Stars.

Für Viva-Chef Dieter Gorny, einst Mitbegründer der Popkomm, ist die Entkopplung der deutschen Popszene daher Ausdruck einer „Normalisierung“. Mit angloamerikanischer Rockmusik sozialisierte Kritiker verfallen dagegen angesichts des Auseinanderdriftens der Pop-Welten leicht in Kulturpessimismus, sehen sie in Deutschland doch eine ähnliche Situation wie in den Fünfzigern heraufziehen, als Backfisch-Idole wie Peter Kraus mehr Platten verkauften als Elvis oder die Stones: ein Backlash auf der ganzen Linie.

Die Furcht vor deutschem Pop-Konservatismus mag unbegründet sein, die vor der Provinzialisierung ist es weniger. Denn wenn Musikhören etwas mit Welterfahrung zu tun hat, dann ist diese Welt kleiner geworden. Es gibt heute eine Generation, die mehr mit Rödelheim und Hamburg verbindet als mit Memphis oder Liverpool. Hinzu kommt, dass die deutsche Musikindustrie auch ihre exotischen Welten längst selbst produziert. Ob Urlaubsfrohsinn aus der Retorte von Loona, Mr. President oder Bellini oder simulierte Ghetto-Folklore von Rappern wie Young Deenay oder Pappa Bear – aus internationalen Images und simplen Mitklatschrhythmen werden Pop-Prototypen gebastelt, die im Unterschied zum Gros des deutschsprachigen Materials sogar exportfähig sind. Denn auch wenn man es nicht gleich merkt: Auch der „Mambo Nr. 5“, vor dem es in diesem Sommer kein Entrinnen gab, ist ein ganz und gar einheimisches Produkt.

Daniel Bax