Gnade vor Recht

Nicole P. zündete ihr Elternhaus an, nachdem sie jahrelang misshandelt wurde. Dafür bekam sie drei Jahre und neun Monate Haft. Ungerechtfertigt viel, meint der Notruf für vergewaltigte und misshandelte Frauen Ludwigsburg. Täterinnen kommen in der deutschen Justiz zumeist schlechter weg als männliche Delinquenten. Weil sie erst zuschlagen, wenn sie zuvor jahrelang gequält wurden. Da gilt dann Notwehr nicht mehr und auch nicht Handeln im Affekt. Über eine juristische Schieflage berichtet Annette Kanis

Ein einziges Mal sollten ihre Eltern die Angst verspüren, die sie selbst zu gut kannte. Angst vor Gewalt. Deswegen der Kanister Benzin, die Spur rund ums Haus, das Feuer. Nachdem die 29-jährige Nicole P. am 9. Mai vorigen Jahres am Haus ihrer Eltern Feuer gelegt hat, stellt sie sich am selben Tag der Polizei. Es folgen Untersuchungshaft und ein Prozess, der beispielhaft ist für patriarchale Rechtsprechung.

So sehen es die Frauen vom Notruf für vergewaltigte und misshandelte Frauen im baden-württembergischen Ludwigsburg. Hier hat sich eine Gruppe zusammengefunden, die die Angeklagte nun unterstützen wollen. An den Verhandlungstagen kamen sie ins Stuttgarter Landgericht und mussten sich – da auch lesbische Frauen in der Gruppe sind – Bemerkungen des Richters gefallen lassen wie „Vereinigung selbst zeugender Mütter“. Ihre Beurteilung: Die mittlerweile 30-jährige P. wurde vor Gericht behandelt wie ein Kind, ihre Vorgeschichte nicht annähernd berücksichtigt. „Als Frau wurde Nicole P. nicht gerecht gesprochen, das heißt, das Urteil berücksichtigt ihre Situation ganz und gar nicht“, sagt Birgit Scheible vom Notruf. Das Urteil: Drei Jahre und neun Monate wegen Brandstiftung und versuchten Mordes.

In ihrer Kritik am Urteil beziehen sich die Frauen vor allem auf die Vorgeschichte der Angeklagten: Die Täterin war Opfer. Opfer autoritärer Gewalt des cholerischen Vaters, der duldsamen Mutter. Opfer sexueller Misshandlung durch den drei Jahre älteren Bruder, der jetzt angeklagt ist, die Schwester zwischen ihrem neunten und siebzehnten Lebensjahr missbraucht und vergewaltigt zu haben. Die Verteidigerin setzte auf diesen Hintergrund. Feuerlegen als Aufbegehren, als Aufschrei, mit den Erlebnissen der Vergangenheit nicht mehr klarzukommen. Jetzt, in der Haft, erhält Nicole P. keine psychotherapeutische Behandlung.

Nicole P. hat nicht getötet. Der Vater entdeckte den Brand rechtzeitig , niemand wurde verletzt, bei 15.000 Mark lag der entstandene Sachschaden. Aber ihr Fall ist vergleichbar mit den so genannten geschlechtsspezifischen Tötungsdelikten, für die die Umkehr vom Opfer zur Täterin bezeichnend ist. Die Mehrzahl der Frauen, die Morde an Männern begehen, wurden zuvor – meist jahrelang – von diesen misshandelt.

„Mord ist auf der männlichen Seite das vollendete Tötungsdelikt an einer fremden Frau, nicht selten nach einer Vergewaltigung, und auf der weiblichen Seite, das Delikt an einem vor, aber nicht bei der Tat gewalttätigen Partner“, sagt Dagmar Oberlies, Herausgeberin der feministischen Rechtszeitschrift Streit und Vorsitzende der Strafrechtskommission des Deutschen Juristinnenbundes. Sie hat Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen untersucht und anhand von Gerichtsurteilen geschlechtsspezifische Unterschiede herausgearbeitet. Ihre Untersuchung stützt die These, dass tötende Frauen in der Mehrzahl vorher Opfer der getöteten Männer waren. Tötende Männer dagegen werden als Opfer ihrer Unbeherrschtheit, ihrer Aggressivität, ihres Alkoholkonsums gesehen. In einem Beispiel aus den von Oberlies herangezogenen Urteilsbegründungen klingt das dann so: „Der Angeklagte neigt zu erhöhter Reizbarkeit sowie Erregbarkeit und weist mangelnde Feinfühligkeit auf. Er , der kein stabiles Selbstwertgefühl besitzt und deshalb leicht verletzbar ist, neigt ferner zu überschießenden Handlungen und aggressiven Verhaltensweisen, insbesondere unter Alkoholeinfluß.“

Gerne greift die deutsche Rechtsprechung auf diesen vereinfachenden Argumentationsweg zurück, gilt es den gewalttätigen Mann zu bestrafen. Männer, die Gewalt anwenden, können sich nicht beherrschen. Könnten sie es, würden sie ja keine Gewalt anwenden. Männer rasten aus – und Richter urteilen auf Körperverletzung mit Todesfolge.

Männer töten, Frauen morden. So beurteilt es die deutsche Rechtsprechung. Denn Frauen, in diesem Sinne benachteiligt durch körperliche Unterlegenheit, planen ihre Tat. Bei ihnen trifft viel öfter das Mordmerkmal der Heimtücke zu. Diese liegt vor, wenn die „Arg- und Wehrlosigkeit“ des Opfers „in feindlicher Willensrichtung bewusst ausgenutzt wird“. Was da heißt Tötung von Schlafenden, Locken des Opfers in einen Hinterhalt, Untermischen von Gift ins Essen.

Die Entstehung des betreffenden Paragrafen 211 im Strafgesetzbuch geht zurück in die Zeit des Nationalsozialismus. 1941 eingeführt, kritisieren Juristinnen heute das geltende Gesetz als Relikt , das Frauen als Täterinnen vor Gericht benachteiligt. Frauen, die sich wehren wollen, müssen planen. „Männer dagegen profitieren davon, dass sie von der Gewalttätigkeit direkt in die Tötung übergehen“, zeigt Dagmar Oberlies in ihren Untersuchungen. Schlägt ein Mann seine Frau seit zehn Jahren und haut dann einmal zu fest zu, kann das als fahrlässige Tötung durchgehen – „unbeabsichtigt“ und „ungeplant“. In der Urteilsbegründung kommt ihm zu Hilfe, dass er seine Frau schon so oft geschlagen hatte – ohne sie zu töten. Schlägt ein Mann seine Frau seit zehn Jahren und sie greift irgendwann zum Messer, dann mordet sie und bekommt „lebenslänglich“.

Tatwaffen sind dabei ein weiteres Indiz für den Tötungswillen – und werden hauptsächlich von Frauen verwandt. Vier von fünf Frauen bewaffnen sich. Etwa die Hälfte der tötenden Männer dagegen macht dies mit bloßen Händen, Fußtritten oder Schlägen.

„Das deutsche Strafrecht stützt sich immer noch auf biblische Bilder wie Auge um Auge, Zahn um Zahn und bevorzugt denjenigen, der offen im Kampf tötet“, sagt Susanne Baer von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin, die hier das Projekt „Feministische Rechtswissenschaft“ betreut. Und: Strafmildernde Notwehr wird bei Täterinnen kaum anerkannt. Beispiel aus einer Urteilsbegründung: „Als der Ehemann zu ihr sagte, diesmal sei der Mitbewohner nicht da und könne ihr helfen, befürchtete die Angeklagte, daß sie wieder geschlagen würde, was sie sich aber keinesfalls gefallen lassen wollte. Ihr Ehemann hatte ihr vorher noch gesagt, wenn er ihr die Fresse einschlage, werde sie wie ein zahnloser Bekannter aussehen. Vom Tischchen nahm sie nun ein Bundeswehrmesser und klappte die Messerklinge aus. Obwohl ein konkreter tätlicher Angriff seitens des Ehemannes nicht vorlag, nahm die Angeklagte das Messer und stach kurz hintereinander sechsmal in die linke Halsseite des Opfers.“ Das Gericht urteilte nicht auf Notwehr, der Angriff sei nicht „gegenwärtig“ gewesen, wie es im Fachjargon heißt.

Notwehrsituationen können sich über einen längeren Zeitraum erstrecken – das ist der Ansatzpunkt für die feministische Kritik. Besonders bei Täterinnen, die in Gewaltbeziehungen gelebt haben, müsse anerkannt werden, was sie vor der Tat schon erlitten hätten. „Die deutsche Rechtsprechung versteht die Problematik nicht angemessen, dabei wäre auch bei der jetzigen Gesetzgebung genug Spielraum für die Gerichte vorhanden, mit Notwehr zu urteilen“, sagt Susanne Baer.

Den Grund für diese juristische Schieflage sieht Juristin Baer in dem Festhalten an überkommenen Rollenvorstellungen: „Richter tendieren dazu, den Mythos von der natürlichen Aggressivität des Mannes entschuldigend zu werten.“ Die Frau dagegen passt dem Klischee entsprechend in die erduldende Opferrolle. Wird sie zur Täterin, bricht sie mit dem Bild der friedfertigen, harmonisierenden, passiven Weiblichkeit. „Dann wiederum greifen andere kulturelle Stereotypen – die Täterin wird zur Femme fatale, zur Dämonin stilisiert, ihr Fall zieht in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit auf sich als männliche Varianten.“

Dagmar Oberlies hat noch eine andere Erklärung für das Phänomen: „Frauen sind dadurch benachteiligt, dass sie selten vor Gericht stehen.“ Auf zwölf Frauen, die durch einen Mann getötet wurden, kommt im statistischen Durchschnitt nur ein toter Mann. „Die Richter haben so selten mit Frauen zu tun, deswegen haben sie noch keine Kriterien entwickelt, die sich auf Frauen beziehen.“

Keine Entschuldigung, nur eine Erklärung, dass eine rechtssichere Kategorie der Einordnung immer noch fehlt. Seit den achtziger Jahren sind konstruktive Vorschläge vorhanden, Tötungsdelikte nach den Kriterien „planvoll“, „Affekt“ und „Konflikt“ zu unterscheiden. Wobei letztere Kategorie den Übergriffen in Misshandlungsbeziehungen gerecht werden könnte.

Juristin Oberlies macht sich für diese Ergänzung stark: „Noch gilt für Frauen Gnade vor Recht, das muss sich ändern.“ Täterinnen, die zuvor Opfer waren, können bislang nur hoffen, als vermindert schuldfähig eingestuft zu werden. So verringert sich ihr Strafmaß. Doch hierbei wird die Tat stets individualisiert und auf die psychische Ebene heruntergebrochen. Die Frau bleibt abhängig von psychologischen Gutachtern und vom Ermessensspielraum der Richter.

Verminderte Schuldfähigkeit, die sich aus „affektiven Erregungszuständen“ ergibt, gilt als Hintertür. Sie bleibt rechtlich unverbindlich, weil sie die Tat in individuelle psychische Zusammenhänge rückt und eben nicht zwangsläufig für eine Mehrzahl von Fällen gleichermaßen beansprucht werden kann.

Gesetzlich verankerte Strafminderung für Frauen, die sich wehren und ihren Misshandler umbringen? Angesichts vier Millionen misshandelter Frauen in Deutschland befürchtet die Justiz vermutlich Signalwirkung in eine unkontrollierbare Richtung.

Annette Kanis, 30, freie Journalistin aus Düsseldorf, arbeitet vorwiegend zu den Themen Frauen und Kirche