Darüber spricht man nicht

Wenn es um Geld geht, stehen immer nur die Kleckerbeträge der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger zur Diskussion. Tabu bleiben dafür stets die chronisch wachsenden Vermögen der Reichen und Superreichen. Wer das Sprechverbot verletzt, gilt als sozialneidisch. Ein Essay von Beate Willms

Wissen Sie, was Ihre direkten Vorgesetzten monatlich aufs Gehaltskonto überwiesen bekommen? Was sie auf der hohen Kante liegen und in Immobilien angelegt haben? Können Sie einschätzen, ob diese Beträge über oder unter dem Durchschnitt liegen, ob Ihre Bekannten noch zum „repräsentativen Mittelstand“ oder schon zu den „Reichen“ gehören; oder, konkreter noch: ob der Nachbarssohn, kaum mehr als ein Studienanfänger, sich den BMW und die neue große Wohnung überhaupt leisten kann?

Vor jeder Tarifrunde werden die Lohnforderungen der Gewerkschaften hinlänglich diskutiert. Bei jedem neuen Haushaltsloch in öffentlichen Kassen rechnen Politiker und Journalisten vor, dass Sozialhilfebezieher oder Arbeitslose durchaus über die Runden kämen, würden sie nicht einmal die Woche ins Kino gehen, ihr Auto behalten oder täglich ein Päckchen Zigaretten verqualmen. Und erwischen Sie sich nicht auch manchmal dabei, dass Sie automatisch überschlagen, wieviel besser Sie sparen könnten als ein gewöhnlicher Stützebezieher?

Management- oder andere Spitzengehälter stehen in Deutschland hingegen unter keinem ähnlichen Rechtfertigungsdruck. Über die 5,5 Millionen Mark Jahressalär, die der FC Bayern München seinem Spieler Stefan Effenberg zahlt, regen sich die Fans nur auf, wenn er keine Leistung bringt. Schließlich vermitteln Sportler die Illusion, man könne es durch hartes Training weit bringen. Journalisten rechnen den möglichen Bayern-Profit bei freiem Verkauf der TV-Übertragungsrechte hoch und kommen sogar zu dem Schluss: „Der Mann ist unterbezahlt.“

Was Manager verdienen, wird oft erst gar nicht bekannt. In den Bilanzen der meisten deutschen Unternehmen wird allenfalls ein Gesamtbetrag für alle Aufsichtsräte und Vorständler genannt – ohne Aktienpakete, Abfindungen und andere Vergünstigungen sowie die bis zu sechsstelligen Nebenverdienste in Aufsichtsräten anderer Firmen. Nur selten dringen Zahlen nach außen, solche wie die 5,3 Millionen Mark, die Jürgen Schrempp, Vorstandsvorsitzender von DaimlerChrysler, jährlich bekommen soll.

Noch weniger hinterfragt werden Einkünfte aus Geld- oder Sachvermögen. Oder Erbschaften, die jedes Jahr in die Billionen gehen. Im Gegenteil: Kritik gilt als Ausdruck von Sozialneid. Wer „Reiche“ oder gar „Superreiche“ sagt, ist polemisch oder – schlimmer – „ideologisch“. Lieber hört man „Leistungsstarke“ oder „Besserverdienende“. Dabei vergeht kein Tag am Standort D, ohne dass klar wird, dass die Verteilung von Geld und Arbeit nicht stimmt. Und ohne dass die Mehrheit der Bevölkerung zum Teilen aufgefordert wird: mit den Millionen Armen und Arbeitslosen, aber auch mit den entmutigten Investoren, denen es nur an Geld fehle, um neue Jobs zu schaffen. Die also keinesfalls nach der Steuerreform schlechter stehen oder im Bündnis für Arbeit strapaziert werden dürfen.

Um ehrlich teilen zu können, müsste man aber wissen, wer wie viel hat. Und wenn es in diesem Land ein Tabu, besser: eine statistische Lücke gibt, dann sind es umfassende Zahlen zur Einkommen- und Vermögenssituation.

Dabei handelt es sich offenbar um einen Fall von gewolltem Informationsnotstand. Die wichtigsten Daten liefert das Statistische Bundesamt. Alle fünf Jahre befragen dessen Experten mehrere zehntausend Haushalte in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) über ihre Einkommen und – auf freiwilliger Basis – ihre Vermögen. Da die Ergebnisse von 1998 noch nicht veröffentlicht sind, stammen die aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 1993. „Nichtdeutsche“ Haushalte, die im Durchschnitt weniger gut situiert sind, und Haushalte mit Monatseinkommen von über 35.000 Mark, denen wahrscheinlich die eindrucksvollsten Vermögen gehören, fehlen ganz. Die in der EVS festgestellte Spanne von fünf Prozent „Reichsten“, denen rund ein Drittel des gesamten Anlagebestandes gehören, und den zwanzig Prozent, die an oder unter der Armutsgrenze leben, dürfte also in Wirklichkeit noch weiter ausfallen.

Etwas genaueren Aufschluss über die Vermögensverhältnisse der „Reichen“ gibt die Vermögensteuerstatistik, die allerdings wegen der Abschaffung der Steuer vor zwei Jahren zuletzt 1993 erstellt wurde. Damals besaß ein Prozent der Steuerpflichtigen mit einem Vermögen von jeweils 10 Millionen Mark mehr als ein Viertel des Geldvermögens, das heute nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes 5,7 Billionen Mark beträgt. Da die Vermögenseinkünfte mit der Vermögensgröße wachsen und mit mehr Geld höherverzinsliche Anlageformen möglich sind, ist der Abstand der „Reichsten“ zum Rest der Bevölkerung noch gewachsen.

Das dokumentierte auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einem seiner Wochenberichte zum „Geldvermögen und Vermögenseinkommen der privaten Haushalte“. Danach sind die Nettolöhne und -gehälter im vorigen Jahr nur um 1,3 Prozent gestiegen, während die entnommenen Gewinne und Vermögenseinkommen um viermal so viel, nämlich 5,2 Prozent, zulegten.

Um keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen: Allenfalls ein Fünftel der Bevölkerung ist wirklich arm oder lebt an der Grenze zur Armut. Anders als in der Weltwirtschaftskrise um 1930 braucht heute in Deutschland kaum jemand wirklich zu hungern. Ausschließlich Schulden haben erstaunlich wenige Haushalte. Aber fast alle besitzen Geldvermögen – und wenn es nur eine symbolische Reserve von ein paar tausend Mark für alle Fälle ist. Auch wer Sozialhilfe bezieht, hat meist einen Farbfernseher und ein Telefon in der Wohnung stehen, ein arbeitsloser Hilfsarbeiter in Berlin vermutlich einen höheren Lebensstandard als ein erfolgreicher Kleinunternehmer in La Paz.

Armut und Reichtum sind relativ. Aber die Konzentration ist deutlich zu erkennen: Die Hälfte der Haushalte zusammen besitzt im Westen nur elf und im Osten nur fünfzehn Prozent des gesamten Geldvermögens. Bei Grundstücken, Häusern und Wohnungen ist die Konzentration noch stärker. Zwar verfügt im Westen jeder zweite, im Osten jeder vierte Haushalt über Grundbesitz, doch dieser ist bei den wenigsten schuldenfrei. Immerhin gibt es einen „repräsentativen Mittelstand“, der etwa dreißig bis vierzig Prozent der Bevölkerung umfasst und ein Ein- oder Zweifamilienhaus, vielleicht ein Segelboot, eine Lebensversicherung und ein paar Bundesanleihen sein Eigen nennt. Aber ein Drittel des Immobilienvermögens in Höhe von 7,3 Billionen Mark liegt in den Händen von nur fünf Prozent der Bevölkerung. Ähnlich dürfte es sich mit den 1,7 Billionen Mark Gebrauchsvermögen verhalten, also mit Teppichen, Möbeln, Autos, Uhren oder Schmuck.

Am wenigsten ist über die Verteilung des auf 7 Billionen Mark geschätzten Produktivvermögens bekannt. Laut Statistik kontrollieren fünf Prozent der Kapitalgesellschaften mehr als vier Fünftel des Produktivvermögens. Vordergründig gesehen gehört das Kapital der Großunternehmen überwiegend anderen Großunternehmen. Doch wer steckt dahinter? Nur sieben Prozent der Deutschen besitzen Aktien, die meisten nur wenige. De facto teilen also zwei oder drei Prozent der Haushalte das Aktienvermögen unter sich auf – und sichern sich damit das strategische Potential für wirtschaftliche und politische Entscheidungen.

Die bekanntesten Schwerreichen: Theo und Karl Albrecht, die „Aldi-Brüder“, nach der aktuellen Forbes-Liste mit einem Vermögen von 13,6 Milliarden Dollar die reichsten Deutschen; die Familie Haniel, die ihre 12,4 Milliarden Dollar ihrem Drittelanteil am Handelsriesen Metro und der Aktienmehrheit am Pharmaunternehmen Gehe AG verdankt; die 9,9 Milliarden Dollar reiche Erbenfamilie Quandt mit Beteiligungen unter anderem an BMW, Varta und Altana; die Pharma-Familie Boehringer, Lidl-Chef Dieter Schwarz, Metro-Gründer Otto Beisheim; Familie Schmidt-Ruthenbeck; Michael Otto; Erivan Haub. Können Sie zehn weitere aufzählen?

Dass die wahre Konzentration des Reichtums verhüllt bleibt, ist eine Erklärung für die allgemeine Zurückhaltung gegenüber den Vermögensbesitzern. Hinzu kommt, dass der Lebensstandard der lohnabhängigen Bevölkerung lange rasant gestiegen ist. Heute begreifen sich viele als reich, die in der Vermögensskala nach wie vor weit unten rangieren. Entsprechend schwer fällt es ihnen, die „Sachzwanglogik“, als die die Vermögenden ihre Interessen verkaufen, zu entlarven.

Ist das Beste für die „Reichen“ nicht das Beste für alle? Sind nicht die Gewinne der Investoren die beste Garantie für Arbeitsplätze? Dabei könnte man die Fragen auch ganz anders stellen: Wieso besteht die rot-grüne Bundesregierung auf einer Reduzierung der Gewinnsteuern und propagiert „eine verantwortliche Lohnpolitik“, obwohl ihre christlich-liberale Vorgängerin mit dem gleichen Rezept bereits den Kampf gegen den Arbeitsplatzabbau verloren hatte? Warum ist immer die Rede vom „innovativen Unternehmer“, wo doch die bahnbrechenden Neuerungen nur selten von den Kapitaleigentümern stammen? Und kommen die Millionenvermögen, die als individuelle Leistung belohnt werden sollen, tatsächlich durch unternehmerische Dynamik zustande oder nicht viel öfter durch die richtige Familienkonstellation? Verlangt also die Orientierung am Leistungsprinzip nicht viel eher eine Entlastung von Arbeitseinkommen und eine Belastung von geschenktem Reichtum? Was also spräche wirklich gegen eine Vermögen- und eine höhere Erbschaftsteuer?

Beate Willms, 34, ist Wirtschaftsredakteurin der taz seit 1998 und lebt in Berlin in taz-typischem Wohlstand