Hans im Glück

Mit Hans Eichel hat nicht nur der Finanzminister gewechselt. Der Hesse geht mit seinem unbarmherzigen Sparkurs ein viel größeres Projekt an: die Entideologisierung der sozialdemokratischen Finanzpolitik. Die Überzeugung vieler SPD-Traditionalisten, mehr Geld für Sozialpolitik bedeute mehr soziale Gerechtigkeit, wird mit Eichel zu Grabe getragen. Diese Woche beschließt das Kabinett sein Sparpaket. Betrachtungen zum Eichelschen Umerziehungsprogramm von Silke Mertins

In der ersten Reihe saß Charlotte von Mahlsdorf, strich über ihren Faltenrock und umklammerte ihre Handtasche. Etwas verloren wirkte die Ikone der ostdeutschen Schwulenbewegung unter all den aufgekratzten Frankfurtern, die zur Aids-Benefiz-Gala ins Bürgerhaus Bornheim gekommen waren. Neben ihr, genauso deplaziert, aber ohne Handtasche zum Festhalten: Hans Eichel, hessischer Ministerpräsident. Stocksteif, stumm und so ausdruckslos als wolle er mit dem Bezugsstoff seines Stuhls verschmelzen, um unsichtbar zu werden. Gänzlich im Erdreich zu versinken drohte der Sozialdemokrat, als die schwule Musikgruppe Mainsirenen Trompeten und ähnliches Gerät aus der Hand legte, um dem Schirmherrn ein kleines Ständchen zu bringen: „Wir blasen mit viel Speichel für Landesvater Eichel.“

Das war 1994, aber gottseidank ändern sich die Zeiten und mit ihnen die Aufgaben. Hans Eichel, dem von jeher nichts weniger lag als politisches Showgeschäft, und der sich trotz Drängens in Sachen Imageverbesserung bei seinem Aufstieg zum hessischen Spitzenkandidaten 1990 zu nicht mehr als einer randlosen Brille überreden ließ, ist heute Bundesfinanzminister. Und in dieser Funktion für eine Materie zuständig, die seiner Leidenschaft entspricht. Wenn er heute in Talkshows, Interviews oder auf Pressekonferenzen über Zahlen, Defizite und Konsolidierung spricht, rutscht er nicht mehr unbehaglich auf seinem Stuhl herum als wünschte er sich, seinen Frieden zwischen zwei Aktendeckeln zu finden. Mit glühendem Herzen und ungeahntem Temperament, wie jemand, der nach langer Reise endlich an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, trägt er seine Argumente für die Sparpolitik vor. Sogar seine amorphen Gesichtszüge gewinnen dabei an Kontur. Kein Zweifel, Hans Eichel ist nach der Ämterflucht von Oskar Lafontaine aus Versehen zu seinem Traumjob gekommen. Nach der verlorenen hessischen Landtagswahl wurde für ihn doch noch alles gut. Hans im Glück.

Die vor ihm liegende Aufgabe, den Bundeshaushalt zu konsolidieren, versetze auch ihn nicht in freudige Erregung, sagte Eichel in den letzten Monaten oft. Dass der akkurate Hesse schwer in Erregung zu bringen ist, glaubt man sofort. Aber etwas anderes ist auch wahr: Hans Eichel spart nicht aus ideologischer Überzeugung. Er begründet seine unbarmherzige Rotstiftpolitik keineswegs mit der individuellen Verantwortung des einzelnen Beziehers staatlicher Unterstützung, die gestärkt werden müsse, indem man ihn knapp hält.

Er will auch nicht glauben machen, dass die beste Sozialpolitik wäre, die Wirtschaft zu entlasten, weil die dann Arbeitsplätze schaffe und somit alle am Ende froh und zufrieden seien, wie die FDP es tut. Und Formulierungen wie aus dem Schröder/Blair-Papier – es gibt keine sozialdemokratische, sondern nur eine moderne Wirtschaftspolitik – hört man von Eichel ebenfalls nicht. Der Finanzminister nennt nur einen einzigen Grund für seinen Kurs: So kann es doch nicht weitergehen! Jede vierte Mark im Haushalt geht für Zinsen drauf. Der Haushalt bewegt sich am Rande des Verfassungsbruchs. Das reiche Deutschland lebt auf Pump.

Gewiss, Oskar Lafontaine hätte auf die Nachfrage des kleinen Mannes gesetzt. Er hätte womöglich den Schuldenberg weiter erhöht, im Namen der sozialen Gerechtigkeit und im Glauben daran, dass, wer Geld in die Hand bekommt, es auch ausgibt, somit die Wirtschaft ankurbelt, Arbeitsplätze schafft und am Ende, wie gesagt, alle froh und zufrieden sind.

So haben Sozialdemokraten und Gewerkschaften schon immer die Welt erklärt, und so tun es Politiker wie der um seine Landtagswahl und die Seele der SPD besorgte saarländische Ministerpräsident Reinhard Klimmt auch jetzt.

Ob die nachfrageorientierte Lenkungspolitik des Staates funktioniert, ist nicht bewiesen. Ebenso wenig das Gegenteil. Eichel weiß aber auf jeden Fall: Aus seiner Kasse kann er die staatlichen Zuwendungen in der bisherigen Form und Höhe nicht bezahlen. Gerade weil er die Politikfähigkeit des Staates bedroht sieht, will Eichel die Staatsausgaben verringern – aus pragmatischen, nicht aus ideologischen Gründen.

Der ehemalige Gymnasiallehrer ist mit seinem Stürmen und Drängen für eine solide Finanzpolitik in der SPD nicht so allein wie es im Augenblick den Anschein hat. Obwohl den Sozialdemokraten seit Generationen der unrühmliche Ruf vorauseilt, Nieten in der Haushaltspolitik zu sein, hat der drohende Finanzkollaps vielerorts inzwischen kompetente und anerkannte Finanzpolitiker hervorgebracht.

Den parteilinken Hamburger Bürgermeister Ortwin Runde zum Beispiel. Mit Ostfriesenschläue hatte der schon vor Jahren erkannt, dass die Verteilungspolitik in Zeiten knapper Staatskassen nicht mehr in seinem Sozialressort stattfindet.

Nach fünf Jahren als Senator für Arbeit, Soziales und Gesundheit wechselte er 1993 ins Chefzimmer der Finanzbehörde. Um sich trotz desolater Haushaltslage die politischen Gestaltungsspielräume zu erhalten, musste der Stellenplan des Öffentlichen Dienstes bluten, wurden Investionsprojekte auf Eis gelegt und das Hamburger Tafelsilber verkauft. Im Sparen wollte sich der Norddeutsche mit der Vorliebe für bunte Krawatten und lange Reden von keinem übertreffen lassen. Schon gar nicht von der CDU.

Aber auch gegen die eigene Partei verteidigte Runde seinen Versuch, die Haushaltslöcher zu stopfen. Als sich die Genossen anschickten, wegen der Kontrolle über die Atompolitik gegen eine Teilprivatisierung der Hamburgischen Electricitätswerke (HEW) zu stimmen, stampfte er auf wie Rumpelstielzchen und rief: „Das mache ich nicht mit.“ Runde hielt Wort.

Mit eisernem Besen ( „Ab sofort gilt Haushaltsdisziplin!“) fegte auch die Sozialdemokratin Annette Fugmann-Heesing über sozialdemokratische Bedenken beim Sparen hinweg, als sie 1996 als Finanzsenatorin in Berlin anfing. Vormals diente die Politikerin mit dem „Charme einer Rechenmaschine“ (Spiegel) in Eichels Kabinett. Auch in Berlin war die Haushaltslage so verzweifelt, dass es zwar viel Gejaule, aber letztlich keinen anderen Ausweg als den Sparkurs gab.

Jüngst versprach nun gar Kurt Beck, der kompakt gebaute Bärtige, der in Rheinland-Pfalz eine sozialliberale Koalition anführt, er wolle nicht länger zusehen, wie ihm die Schulden über den Kopf wachsen.

Freilich plagt sich ein Finanzminister heute nicht mehr selbst mit der Aufgabe zu entscheiden, wo Blut fließen soll. Die Bestimmung und Verkündung der Grausamkeiten dürfen die Kollegen selbst übernehmen. Hans Eichel bescheidet sich mit der Aufgabe, die Dramatik der Lage schillernd an die Wand zu malen, den unausweichlichen Lauf der Dinge zutiefst zu bedauern und die widerspenstigen KabinettskollegInnen ins Gebet zu nehmen. Über Mangel an öffentlichem Ansehen kann sich Eichel inzwischen nicht mehr beklagen. Glücklicher Hans. Umso mehr ärgern ihn Unterstellungen, er sei Gesinnungsgenosse des Gralshüters der Neuen Mitte. Mit Bundeskanzler Gerhard Schröder hat er höchstens gemein, in der Lafontainschen Nachfragepolitik nicht die Lösungsformel für das größte Problem, die hohe Arbeitslosigkeit, zu sehen.

Denn Eichels Herz schlägt links, wenngleich seine ersten politischen Gehversuche rechts lagen: Als Jugendlicher engagierte er sich im Wahlkampf für Konrad Adenauer. Erst während seines Studiums wandte er sich den Sozialdemokraten zu. Und früher als andere aus seiner Partei setzte er sich für Ökologie, gegen AKWs und die Stationierung von Mittelstreckenraketen ein – schon 1981 kooperierte er in Kassel mit den Grünen und 1985 bekamen in seinem Regierungsteam Frauen die Hälfte der Posten. Oft wurde ihm vorgeworfen, dass es dem Wahlvolk schwer fällt, sich ein Gesicht wie seines zu merken, aber selten, dass er nicht links genug sei.

Zwar erhöhte er zum Verdruss der Gewerkschaften die Arbeitszeit der Lehrer, doch seine Regierung schuf auch Kinderbetreuungsplätze und förderte sozialen Wohnungsbau.

„Reformfähigkeit bei knappen Kassen“ ist nicht gerade ein mitreißender Werbeslogan, aber dafür Eichels Handlungsmaxime. Und die sollen nun auch seine Parteifreunde verinnerlichen. Schließlich ist Eichel auch nicht von Haus aus Spezialist fürs Fiskalische. Studiert hat er Germanistik, Politik, Geschichte und Philosophie. Philosophie!

Doch der Bruch mit der SPD-Tradition – den Reichen nehmen, den Armen geben – fällt der Partei schwer. Die meisten Parteimitglieder haben erkannt, dass die Menschen Arbeitsplätze und nicht Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wollen. Sie sehen ein, dass zur Ankurbelung der Wirtschaft mehr nötig ist als Mahnungen und Unternehmenssteuererhöhungen. Sie wissen theoretisch auch, dass der Staat nun mal nicht mehr ausgegeben kann als er einnimmt. Dennoch misst sich für viele der Erfolg sozialdemokratischer Regierungspolitik an der Höhe der Sozialausgaben. Es geht ihnen um Umverteilungspolitik, um Klassenkampf.

Dies alles den Genossen auszutreiben ist fester Wille des Finanzministers. Die Haushaltsentscheidungen sollen gerecht sein, aber nicht ideologisch. Doch, ach, den Berliner Sozis brachte das strenge Regiment der Finanzsenatorin Fugmann-Heesing keinen Erfolg. Nach Umfragen liegt die SPD derzeit unter zwanzig Prozent. Da braucht Hans mehr Glück.

Silke Mertins, 34, war bis 1998 für die Hamburger Landespolitik zuständig und arbeitet jetzt als Tagesthema-Redakteurin der taz in Berlin. Ihr eigener Haushalt weist ein erhebliches strukturelles Defizit auf. Um Konsolidierung ist sie stets bemüht.