Auf Staatsbesuch im Regierungsviertel

■ Wenn ab Oktober Premierminister und Präsidenten aus aller Welt der Hauptstadt einen Besuch abstatten, werden die Berliner nicht winken, sondern Eis verkaufen und Knöllchen schreiben

Durch das dichte Blattwerk ist der Himmel über Berlin kaum zu erkennen. Ist sowieso bedeckt heute. Nur ab und zu mogelt sich ein Sonnenstrahl durch die dichte Wolkendecke. Manchmal regnet es. Kein Wetter für Staatsbesuche.

Die großen Kastanien neben der Neuen Wache halten die Tropfen zurück. Wäre der Lärm von den vielen Autos und Sightseeingbussen auf der Straße Unter den Linden nicht, könnten die Gedanken in Ruhe schweifen, zurück in eine Zeit, da hier Fürsten und Herzöge, Generäle und ihre Regimenter vorbeimaschierten. Gegenüber die prächtige Oper, weiter rechts der Bebelplatz, umgeben von historischem Gemäuer; links der Kastanien die Neue Wache mit der Käthe-Kollwitz-Plastik.

Diesen Ort wird im Oktober auch der französische Präsident Jacques Chirac besuchen. Er ist der erste wichtige Staatsgast, der nach dem Regierungsumzug die Hauptstadt besucht. Die Neue Wache ist dabei Pflichtprogramm. Chirac wird wenig Zeit haben, etwas vom schwermütigen Zauber des Ortes in sich aufzunehmen. In einem Konvoi von zwei Dutzend Luxuslimousinen wird er nach seiner Stippvisite bei Bundespräsident Johannes Rau im Schloss Bellevue wohl erst durch das Brandenburger Tor rasen – vorweg eine Motorradstaffel der Polizei. An der Neuen Wache kommt der Tross dann zum Stehen. Alles ist weiträumig abgeriegelt, der Verkehr umgeleitet. Einige Staus mehr im Zentrum der Stadt.

Dann aussteigen, Kranz niederlegen, einsteigen und zurück zum Brandenburger Tor. Wieder aussteigen, vielleicht zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, hindurchmarschieren, noch ein Händedruck für die Fotografen, dann wieder einsteigen. Regierungschefs, sagt man, sehen viel von der Welt.

Unter den Linden und die Straße des 17. Juni werden zum Berliner Diplomatenhighway. Sie verbinden das Schloss Bellevue, den Reichstag, das Brandenburger Tor, die Neue Wache und das Rote Rathaus miteinander. Ab Oktober werden hier in regelmäßigen Abständen gekrönte, gewählte und selbsternannte Könige, Premierminister, Kanzler und Despoten den Berlinern zuwinken. Doch Berliner zu finden, die zurückwinken, wird schwer werden. Außer in Hotels wie dem Adlon wohnt hier niemand. Wer hier entlangläuft, ist entweder Tourist, Bundesbeamter oder Autoverkäufer. Denen verkauft Stefan Ankert vom Nobelrestaurant „Opernpalais“ Eis.

Die Kugel kostet bei dem Neunzehnjährigen 2 Mark – alles hat eben seinen Preis. Der werdende Restaurantfachmann findet die Staatsbesuche am Arbeitsplatz ganz gut: „Das bringt Umsatz.“ Und sonst? „Politik interessiert mich nicht.“ Er will gar nicht wissen, wer da gerade an seinem Edel-Eis-Stand vorbeirauscht. Die meisten Staatsgäste dürften ihm auch unbekannt sein. Wer weiß schon, wie der Präsident von Kasachstan heißt?

Gemütlich schlendert ein Mann in schwarzer Uniform die Straße entlang. So mancher Autobesitzer ist heute auf ihn nicht gut zu sprechen – er schreibt Knöllchen für Parksünder. Seinen Namen will er nicht nennen, er ist Polizeiangestellter, da gibt es Vorschriften. Er sieht den Staatsbesuchen gelassen entgegen: „Mich beschäftigt nur der ruhende Verkehr, nicht der fließende.“

Es könne nur sein, dass es etwas mehr zu tun geben werde in nächster Zeit. Auf der Hälfte der Straße Unter den Linden gibt es in der Mitte Parkplätze. Die sollen bald verschwinden, sagt er. „Hier wird eine Tiefgarage gebaut.“ Und dann werde es wohl noch mehr Falschparker geben als jetzt.

Die Bonner haben keine Tiefgarage gebaut, damit Staatsgäste besser durch den Verkehr kommen. Warum auch? Die Wege waren kurz. Kanzleramt und die Präsidentenvilla Hammerschmidt teilten sich einen gemeinsamen Garten, Bundesrat und Bundestag lagen schräg gegenüber und praktisch unter einem Dach. So familiär wird es in Berlin nicht zugehen.

Thorsten Denkler