„Waldmeer, Sandmeer, sonst nix mehr“

■ Gespottet wird gern über den „Arsch der Welt“, doch im Land der drei Meere am Stettiner Haff ist der Tourist noch Pionier in Europas größtem zusammenhängendem Waldgebiet

Wer mit dem Auto an den sorgfältig restaurierten, mit Schilf gedeckten Häusern vorbei in das Pommersche Altwarp fährt, landet erst einmal im Stau. Voll bepackte Busse, Pkws und schwatzende Fußgängerscharen schieben sich in Richtung Hafen. Der Parkplatzwächter winkt im Zweiminutentakt. Da braucht man Nerven: Wenn die Weiße Flotte in den kleinen Hafen einläuft, die jede halbe Stunde über die Bucht zwischen Altwarp und dem polnischen Nowe Warpo (Neuwarp) hin und her pendelt, ist in dem Fischerort der Teufel los. Menschenmassen mit Bordtüten voller Zigaretten und aneinander klöternden Flaschen: Sie drängen von Bord, am Souvenirstand und der zentralen Würstchenbude vorbei zu ihrem Parkplatz. Etwa dreitausend Butterfahrer fertigt der Bundesgrenzschutz täglich ab; an den Wochenenden tummeln sich hier mehr als fünftausend Menschen. Nur: Den ausgetretenen Pfad zwischen Parkplatz und Anlegestelle verlassen sie nie.

Schon hundert Meter weiter sind wir am Arsch der Welt. 50 Jahre lang waren Touristen hier unerwünscht, war die Gegend bei dem kleinen Fischerort am Haff militärisches Sperrgebiet. Heute ist es Naturschutzgebiet mit Wanderdüne, Kiefernwald und Wacholdertal. Unser Klatschen nach Mücken und das Gekreische der Seemöwen sind die einzigen Geräusche. Mannshohe Schilfgräser säumen den Uferweg. Segeljollen, festgezurrt an den angegammelten Stegen. Stille. Selbst das Handy geht aus, wegen der nahe gelegenen polnischen Grenze.

Nach einer Viertelstunde der erste Tourist: ein älterer Herr in weißem Rippenunterhemd und Gummistiefeln. Die Hose hochgekrempelt, den Casher in der Satteltasche radelt er uns entgegegen. Auf Urlaub? „In meinem Alter macht man keinen Urlaub mehr!“ Er sei Biologe, auf den Spuren seltener Pflanzen und Tiere. Über 400 Schmetterlingsarten jagt er hinterher, seltenen Insekten, Blumen und Gräsern. In Reiseführern steht nichts davon.

Ein Versäumnis des Tourismus-Managements. Denn die Region, in der zur Zeit 25 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind, ist wirtschaftlich auf den Fremdenverkehr angewiesen. Die wenige Industrie, die es hier mal gab, ist längst eingestellt. Vor zwei Jahren wurden schließlich auch die letzten zwei der einst 40 Ziegeleien geschlossen.

Vor fünf Jahren wurde das Haff auf beiden Seiten der Grenze von der Organisation Naturfreunde-Internationale zur Landschaft des Jahres gewählt. Mit ihren unbegradigten Flüssen, die zu Wasserwanderungen einladen. Den Alleen aus Kopfsteinpflaster. Den feuchten Koppeln und vertorften Niederungen der Ueckermünder Heide, den Dünen und Wiesen. Es ist das größte zusammenhängende Waldgebiet Europas, mit insgesamt 400 Kilometern Wanderwegen.

Der Landstrich am Haff wird als Geheimtip gehandelt. Doch die Butterfahrer von Altwarp sind nicht gerade die Lieblingsklientel. Naturliebhaber und Aktivurlauber will man begeistern. Im Oderhaff, oder Stettiner Haff, wie es seit der Wende wieder heißt, kann sich der Reisende noch als Pionier fühlen.

Von den 500 Millionen Mark, die der Bund in die neuen Bundesländer fließen ließ, landeten rund 93 Millionen in Mecklenburg Vorpommern. Der Bärenanteil wurde in Hotelanlagen und Gastronomie investiert. „Wir haben noch nie zuvor so viele Gaststätten gehabt“, sagt Peter Westphal, Bürgermeister von Ueckermünde, „aber es sitzt kaum jemand drin.“

Tote Hose. In den kleinen Nestern im Hinterland genauso wie in den Städten Ueckermünde, Torgelow und Eggesin. Die Zeit des Schnuppertourismus direkt nach dem Mauerfall ist vorbei. „Heute haben wir Probleme, die Leute länger als drei Tage hier zu behalten“, sagt Armin Beduhn, erster Beigeordneter des Landkreises Uekker-Randow. „Wir müssen unser eigenes Image finden, raus aus dem Schatten von Usedom.“ Seine Visitenkarte ließ er sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch drucken. Schließlich gehören die östlichen Nachbarn ab 2006 zur EU.

So wie Estragon und Wladimir auf Godot, warten hier alle auf die Bundesstraße nach Polen. Mit dem Auto kommt man lediglich über Stettin nach drüben. Das bedeutet einen Umweg von 50 Kilometern, eine Zumutung für Einheimische und Reisende. Der Hotelbesitzer Volkmar Rollinger aus Eggesin geduldet sich nun schon seit fünf Jahren. „Wenn die Straße erst mal gebaut wird, kommen auch die Gäste.“ Er hockt in seinem Vier-Sterne-Haus, das mit den über hundert Betten, einer Kegelbahn und eigenem Waffengeschäft nebst Schießstand immerhin eines der größten Hotels im Kreis ist. Doch wie die meisten ist es lediglich zu 30 Prozent ausgelastet.

Momentan scheitert die Durchgangsstraße an den Polen, weil sie durch polnisches Naturschutzgebiet führen würde. „Das ist doch nur ein Vorwand“, meint Rollinger. „Da wohnen die reichen Polen in ihren schicken Villen. Die wollen bloß ihre Ruhe haben.“

„Das Land der drei Meere: Waldmeer, Sandmeer, sonst nix mehr“ – so spottete man noch vor der Wende über diesen Landstrich, der nur für seine NVA-Kaserne in Eggesin bekannt war. Wer in Meck-Pomm Urlaub machen wollte, fuhr lieber nach Usedom mit seinen mondänen Seebädern. Daran hat sich nicht viel geändert.

Vom großen Ansturm auf die Seebäder ist in den kleinen Orten am Achterwasser, wie das Haff auf Usedom genannt wird, hingegen nichts zu spüren. Landwirtschaft und Fischfang geben der Gegend ihr Gesicht. „In Ahlbeck wohnte man immer schon in der ersten Reihe“, sagt der Reiseleiter Dieter Gildenhaar. „Oben an der Ostsee leben die reichen Leute, die in ihren hübschen Häusern wohlhabende Urlauber aufnehmen. Die im Hinterland wohnen, sorgen wiederum für diejenigen, die die reichen Leute versorgen“, beschreibt er das Gefälle von Norden nach Süden. Das war schon immer so: Aufwendige Bäderarchitektur oben – kleine, schilfgedeckte Häuschen unten auf der Insel.

Doch man will hier gar nicht erst Touristenhorden anlocken. Im Landesinneren begnügt man sich damit, dass sich gelegentlich mal ein Tourist auf ein Leihrad schwingt, auf einen Kaffee vorbeikommt und dann wieder geht. Gern erzählt Gildenhaar an der Stelle die Geschichte, wie die Bewohner des kleinen Fischerdorfs Kamminke mit Investoren umspringen. „Entweder du schüttest die Baugrube wieder zu, oder wir karren das Fundament von deinem Hotel ins Haff!“ – so drohten sie einem Bauherrn. Was dieser nicht ernst nahm. Ehe er sich's versah, landete seine Baustelle im Wasser.

Kirsten Niemann