Literatur der Uneitelkeit

Es gibt eine junge deutsche Gegenwartsliteratur, die nicht nur von sich selber spricht: Der Autor Thorsten Krämer schreibt Geschichten über Alltagskatastrophen und drohende Glücksattacken. Nächste Woche erscheint sein erster Roman. Ein Porträt  ■   von Volker Weidermann

Selten war die deutsche Gegenwartsliteratur so gegenwärtig wie heute. Jetztzeitgeschichten, wohin man blickt. Überall der Wille zur Wirklichkeit, zur authentischen Beschreibung des Augenblicks. Natürlich nicht um, wie das früher einmal war, eine schlechte Wirklichkeit durch schonungslose Beschreibung in naher Zukunft besser zu machen. Nein, es geht um den Standpunkt des Ich in der Welt, geht um Selbstbeschreibungen, um Selbstvergewisserung: die Rückgewinnung des Individuellen durch massiven Einsatz von Eitelkeit und Ich-Bezogenheit. „Das Wichtigste ist die Beobachtung“, hieß es programmatisch zu Zeiten der „Neuen Sachlichkeit“. „Das Wichtigste ist die Selbst-Beobachtung“, könnte es heute heißen.

Als Zentrum dieser neuen Literatur hat sich in den letzten Jahren der Kölner Kiepenheuer & Witsch Verlag etabliert, wo der umtriebige Lektor Martin Hielscher so eine Art KiWi-Autoren-Schule versammelt, die schon einige ebenso lesenswerte wie viel verkaufte Bücher hervorgebracht hat. Den Anfang hatte 1995 der damals 28-jährige Christian Kracht mit seinem Reiseroman „Faserland“ gemacht, im letzten Jahr erschien hier mit großem Erfolg Benjamin von Stuckrad-Barres (24) „Soloalbum“, und auch „Crazy“, das Buch des Schmerzensgymnasiasten und Jüngstautors Benjamin Lebert (17), gehört in diese Reihe der jungen Selbstvergewisserungsliteratur.

Es scheint allerdings, als ob diese Literatur mit Leberts Roman auch schon ihren Endpunkt erreicht hätte. Jünger und selbstreferenzieller als in jenem Schulerfahrungsbericht geht es jedenfalls kaum noch. Und wenn von Stuckrad-Barre in den nächsten Tagen nicht nur ein Kompendium seiner größten journalistischen Erfolge, „Remix“, sondern auch gleich noch der Roman seiner Lesereise, die er mit „Soloalbum“ unternommen hatte, unter dem Titel „Livealbum“ in die Läden kommt, könnte es sein, dass sich bei so viel Egomanie so etwas wie Überdruss oder – schlimmer noch – Langeweile unter den Lesern einstellt.

Aber es gibt in der jüngsten deutschen Literatur auch Wirklichkeitsbeschreibungen, die sich nicht nur um den Erzähler drehen. Der erste Roman des neuesten KiWi-Autors, Thorsten Krämer (27), der unter dem Titel „Neue Musik aus Japan“ am nächsten Mittwoch in die Buchläden kommt, ist eine große Zurücknahme des Autors zugunsten der Geschichten, die er schreibt, und der Personen, die er beschreibt. Es ist ein Roman in zwanzig Episoden. Die handeln vom Selbstmord und vom Glück, vom Wahnsinn und von Videoclips, von japanischer Popmusik, von Zusammenstößen verschiedener Kulturen, vom Wunsch, alles zu ändern, und von einer Ahnung, dass irgendwie alles das zusammengehört.

Thorsten Krämer ist ein zurückhaltender junger Mann mit weichem Händedruck und einem Flanellhemd. Er wartet vor einem Zeitungscontainer am Kölner Hauptbahnhof zwischen hundert Touristen aus aller Welt und einer alten Dame mit dem Schild „Jesus liebt dich“. Er lächelt und sagt: „Wir könnten in so ein Oma-Café gehen, ganz hier in der Nähe, da ist es ruhig.“ Es ist wirklich ein Oma-Café mit samtgrün gepolsterten Stühlen, Marmortischen, Spiegelwänden. Und ruhig ist es auch.

Krämer kommt gerade von der Arbeit. Zwanzig Stunden pro Woche arbeitet er für einen Onlinedienst von Sony. Betreut da unter anderem die Literaturseite, wo es immer ein Thema der Woche gibt (Belgien, Sonnenfinsternis, Schach ...). Dazu gibt er dann Buchempfehlungen. „Ist nur ein Job“, sagt er.

Krämer ist schon seit vier Jahren verheiratet, hat einen 14 Monate alten Sohn. Trotzdem wirkt er eher jünger, als er ist. Jungenhaft. Er studiert auch noch: Japanische Linguistik, Phonetik und Ethnologie und bereitet seine Magisterarbeit über das Wort „no“ vor, das im Japanischen einmal zur Nominalisierung und einmal zur Kennzeichnung bestimmter Fragesätze benutzt wird. Er will zeigen, dass beide Verwendungen im Grunde auf dieselbe Funktion hinauslaufen, sie auf einer höheren Ebene eng zusammenhängen.

Zusammenhänge dieser Art faszinieren ihn. Sein erstes Buch, das er letzten Herbst beim kleinen Kölner Tropen-Verlag unter dem Titel „Ich heiße Hal Hartley“ veröffentlicht hat, entwickelte solche Zusammenhänge, fernab einer bloßen Oberflächenwahrnehmung, im filmischen Genre. Hier hat er Filme von Jean-Luc Godard, Hal Hartley und Takeshi Kitano nacherzählt und neu zusammenkomponiert, um so die ästhetische und intellektuelle Verwandtschaft der drei Filmemacher erzählerisch nachvollziehbar zu machen.

Auch die zwanzig Episoden in „Neue Musik aus Japan“ hängen alle auf den unterschiedlichsten Ebenen zusammen. Personen treten kurz auf, verschwinden dann, um später in ganz anderen Konstellationen, in anderen Ländern, anderen Lebenszusammenhängen wieder aufzutauchen. Mal erkennt man sie wieder, beim ersten Lesen jedoch häufig nicht. Es sind taubstumme Supermarktkassierer, Uni-Assistenten, Studenten, Weinköniginnen, Tai-Chi-Chuan-Lehrer, Flüchtlinge, Punks und Möchtegernschriftsteller, die sich hier treffen, sich anziehen oder abstoßen. Meist begegnen sie sich nur für einen Augenblick, einen Glücks- oder Unglücksmoment lang. Das Leben ist danach ein anderes.

„Alltag gibt es nicht“, sagt Krämer, das sei nur eine Fiktion. Jeden Tag sei alles möglich. So sind auch seine Geschichten angelegt. Die Katastrophe oder eine Ahnung von Glück lauert überall. „Der machtvolle Strudel des Lebens“ wird das an einer Stelle etwas pathetisch genannt. Es gibt da in einigen Episoden eine Anruferin, die sich bei fremden Männern knapp telefonisch erkundigt: „Hast du einen Freund?“, und die sagen dann entweder „ja“ oder legen auf, oder sie sagen „nein“, und dann tauscht man vielleicht Adressen aus und kommt mal kurz zu Besuch.

Schnelle Lebensbesuche. Das ist das erzählerische Prinzip des Buches. Diese Short-Cuts-Struktur ist natürlich nicht neu. „Na und?“, sagt Krämer. „Das ist ja das Gute an unserer neuen Generation von Schriftstellern. Dass wir nicht mehr zwanghaft experimentell schreiben müssen. Wir nehmen hier und dort was auf. Das heißt ja nicht gleich, dass man im Creative-writing-Stil schreiben muss.“ In „Neue Musik aus Japan“ verbindet Krämer das Short-Cuts-Prinzip mit der soziologischen Theorie der „six degrees of separation“, der These also, dass man immer nur maximal sechs Verbindungspersonen von jedem beliebigen Menschen auf der Welt getrennt ist. Man kennt sich, oder man wird sich kennen lernen. In der Mitfahrzentrale oder irgendwo anders, und man hat vielleicht eine gemeinsame Erinnerung, die die Grundlage für eine größere Gemeinsamkeit bilden kann. Bei der Eröffnung einer Kunstausstellung heißt es einmal: „Schon jetzt war abzusehen, dass die Erinnerung an die Ausstellung eines Tages eine Gemeinsamkeit zwischen zwei Menschen etablieren würde, genau wie bestimmte Fernsehserien, deren Titelmelodien die Leute noch nach Jahren pfeifen konnten.“ Oder die Erinnerung an Susanne, die Moderatorin der Videoclip-Sendung auf Tele 5 damals, oder ...

Oft sind es einander höchst fremde Menschen, die hier aufeinander treffen. Asiaten und Deutsche meist, manchmal Türken. Es herrscht eine Freude an der Fremdheit in Krämers Roman, eine große Neugierde, ein Interesse an dem Leben des ganz Anderen, an der anderen Kultur. Ein Befremden bleibt, ähnlich dem Befremden, das entsteht, wenn man sich jene „Neue Musik aus Japan“ (jede der 20 Episoden ist mit dem Titel eines neuen japanischen Popsongs überschrieben) des Romas einmal zusammenstellt. Ehrlich gesagt entsteht beim Hören zunächst eine Art von Grauen. Beim dritten, vierten, fünften Hören eine erste Gewöhnung und ab dem sechsten Mal eine Art Glück. Bücher von Thorsten Krämer: „Ich heiße Hal Hartley. film in worten“. Tropen Verlag 1998, 112 Seiten, 19,80 DM „Fast schon ein Glück“. Erzählungen. Emons Verlag 1998, 115 Seiten, 24,80 DM „Neue Musik aus Japan“. Roman. Kiepenheuer & Witsch 1999, 176 Seiten, 18,90 DM