Die Grenzen der Sicherheit

taz-Serie „Grenzstadt Berlin“ (Teil 3): Im subjektiven Empfinden der Stadt spielen sichere und gefährliche Orte eine große Rolle. Hinter die Verräumlichung der Angst tritt die Sorge um die Unsicherheit der eigenen Existenz zurück  ■ Von Uwe Rada

Sonntags gibt es Gedränge. Nicht so sehr Touristen als vielmehr Anwohner schieben sich an den wackligen Marktständen vorbei. Wer beim Flohmarkt am Arkonaplatz nach ausgefallenen Antiquitäten sucht, hat wenig Erfolg. Dafür liegt der Platz, obwohl zu Berlin-Mitte gehörig, zu weit weg von den Trampelpfaden rund um den Hackeschen Markt. Vom Arkonaplatz ist im Zusammenhang mit den angesagten Orten des „Neuen Berlin“ keine Rede. Entsprechend still wird es, wenn am späten Nachmittag die Marktstände wieder abgebaut sind. Es ist die Zeit der Jugendlichen und der Polizei.

Immerhin gilt der Arkonaplatz nicht nur als „Problemquartier“ mit hoher Arbeitslosigkeit und wachsender Armut, sondern ist vom Berliner Polizeipräsidenten auch als „gefährlicher Ort“ ausgewiesen. Verdachtsunabhängige Kontrollen sind damit ebenso möglich wie Platzverweise und Aufenthaltsverbote.

Zwei Ecken weiter herrscht Ruhe. In einem Neubau in der Schwedter Straße sitzt der „Doorman“ in seinem Büro und blickt abwechselnd auf die Straße und seine zahlreichen Monitore. Sicherheit wird in der „Residenz Prenzlberg“ großgeschrieben. Rund um die Wohnanlage ist ein Zaun gezogen, wie man ihn sonst nur aus Fußballstadien kennt, der Eingangsbereich wird videoüberwacht, Türklingeln gibt es nicht. Wer den Nummerncode dessen, den er besuchen möchte, nicht kennt, muss draußen bleiben. Sicher ist sicher.

Mit zunehmender Individualisierung und sozialer Polarisierung verändert sich nicht nur der Charakter der einzelnen Stadtquartiere, sondern auch die Wahrnehmung der Stadt durch ihre Bewohner. Subjektive Befunde treten in den Vordergrund, die „mental maps“, die subjektiven Wegweiser durch die Stadt, gewinnen an Bedeutung. Deren Funktion, schrieb der Soziologe Eike Gebhardt, reiche weit über die bloße Orientierung hinaus und stecke gleichsam ein psychosoziales Szenarium ab. Offenbar, so Gebhardt, „orientieren wir uns in Orten nicht nur nach Wegnetzen und Zielpunkten, sondern auch nach atmosphärischen, sinnlichen Signalen“.

Es ist freilich kein Zufall, dass in den Jahren nach dem Fall der Mauer diese „atmosphärischen, sinnlichen Signale“ mehr und mehr auf auf die wachsende Unterscheidung von sicheren und unsicheren Orten reduziert wurden. Die aufgeregten Diskussionen um die wachsende Kriminalität haben schließlich ihre Spuren hinterlassen. Und sie haben Folgen: Der Rückzug in die eigenen Räume, Abwanderung, Segregation und Entmischung haben dazu geführt, dass man sich selbst in der unmittelbaren städtischen Umgebung fremd geworden ist.

Mit der Fremdheit wächst aber auch die Angst – und mit der Angst das Bedürfnis nach weiterer Abgrenzung. Dabei wird die Angst vor existentieller Unsicherheit immer stärker in den städtischen Raum projiziert. Mit dieser Verräumlichung der Angst hat sich aber auch, um im Jargon des psychosozialen Szenariums“ zu bleiben, die Problemurheberschaft umgekehrt. Nicht mehr der neoliberale Strukturwandel erscheint als Ursache wachsender Ungleichheit und Unsicherheit, sondern die „sozialen Praktiken“ der Modernisierungsverlierer. Wie konnte es dazu kommen?

Berlin-Kreuzberg, Wrangelstraße. Einige Zeit nachdem der damalige Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) davon gesprochen hatte, dass es in der Hauptstadt Gegenden gebe, in denen man sich nicht mehr als Deutscher fühle, wartete der ansonsten eher liberale Tagesspiegel mit einem Bericht auf, der es in sich hatte: Im ausländerstarken Bezirk Kreuzberg habe die Polizei die Lage nicht mehr unter Kontrolle: „Fast ganz Kreuzberg ist ein gefährlicher Ort.“ Insbesondere der Wrangelkiez, so der Tagesspiegel weiter, „fault innerlich weg“. Die Kriminalität in dem Ausländerghetto sei immens, schlage sich aber nicht in der Statistik nieder, weil die Bewohner das alles unter sich regeln, ohne die deutsche Polizei einzuschalten. „Die Stimmung gegen die Polizei ist dermaßen feindlich, dass der Kiez längst nur noch in Mannschaftsstärke aufgesucht wird.“

War das bloße Panikmache, rassistische Hetze oder mehr? Der Vergleich eines großen Teils von Kreuzberg mit den No-go-Areas, die man sonst nur aus von den Slums amerikanischer Innenstädte kennt, markierte im Bericht des Tagesspiegels nicht nur einen neuen „Standort“ im Umgang mit ethnischen Minderheiten, sondern mit der Armut im Allgemeinen. Armut muss einen, in ihrer ganzen Armseligkeit, nicht länger beschämen, sondern darf als Armutszeugnis gegenüber den Mindeststandards der Zivilgesellschaft fortan missachtet und verachtet werden. Nicht mehr um Integration geht es den Protagonisten der „Neuen Mitte“, sondern um Ausschluss, nicht mehr um Verständnis, sondern um Ablehnung. Das betrifft die Bettler in der Innenstadt ebenso wie die Graffiti im Stadtbild.

Der amerikanische Geografieprofessor Neil Smith hat diese neue Praxis der Ausgrenzung, wie sie sich in New York in der Politik der „Zero Tolerance“ zeigt, bereits als die „New Urban Frontier einer revanchistischen Stadt“ bezeichnet. Zwar hat Berlin, zehn Jahre nach dem Mauerfall, noch nicht wieder den traurigen Nimbus einer „Frontstadt“ erlangt, die Grenzen allerdings sind gezogen. „Null Toleranz“ ist auch hier zum Zauberwort geworden, und der Sicherheitsapparat hat aufgerüstet, juristisch wie ideologisch. Von 36 „gefährlichen Orten“, die die Berliner Polizei ausgemacht hat, zählt die Mehrzahl zu jenen Quartieren, die sich durch wachsende Armut auszeichnen.

Selten ist die Gleichsetzung von Armut als Gefährdung der öffentlichen Ordnung so deutlich geworden wie am Arkonaplatz oder in der Wrangelstraße. Nicht mehr die Armut ist das Problem in der Grenzstadt Berlin, das Problem sind vielmehr die Armen.

Dabei ist es kein Zufall, dass der wachsende Kriminalitätsdiskurs bei dieser Grenzziehung zwischen drinnen und draußen, privat und öffentlich, sicher und unsicher eine entscheidende Rolle spielt. „Insbesondere Kriminalität“, meint Neil Smith, „wurde zum Dreh- und Angelpunkt der revanchistischen Stadt. Dies umso mehr, als die Angst und die Wahrscheinlichkeit, der Kriminalität zum Opfer zu fallen, auseinandergehen.“ Die Folge: Kriminalität überhole die Angst vor eigenem Wohlstand und wirtschaftlicher Entwicklung und werde zur Angst Nummer eins. Smith spricht in diesem Zusammenhang bereits davon, dass die zunehmende Angst an ihre vermeintlichen Verursacher zurückgegeben werde, dass „Fear and Fury“ die neue soziale Landkarte New Yorks bestimmten. „Angst und Wut“ sind als Katalysatoren der neuen Grenzziehungen allerdings schon lange nicht mehr das „Privileg“ konservativer Ordnungspolitiker.

Die Bergmannstraße zählt eigentlich zu den besseren Gegenden Kreuzbergs. Anders als im ehemaligen Kreuzberg 36 wohnten im quirligen Viertel zwischen Gneisenaustraße und Chamissoplatz lange Zeit Arbeitslose neben Studenten, Beamte neben Immigranten. In den letzten Jahren hat sich das Bild gewandelt. Viele Familien und Besserverdienende sind weggezogen, und vor allem Jugendliche türkischer und kurdischer Herkunft, so die Klage zahlreicher Bewohner, hätten begonnen, die öffentlichen Räume des Viertels zu dominieren.

Dass der Ruf nach Ruhe und Ordnung auch von vielen Bewohnern aus dem grün-alternativen Milieu ertönt, verwundert kaum. Nachdem ein großer Teil des traditionellen Arbeitermilieus der Modernisierung der Industriestadt Berlin bereits zum Opfer fiel, sind es nun die kleinen Dienstleister und Freiberufler, die an der Schwelle zwischen drinnen und draußen stehen. Auch ihre Lebensentwürfe sind nun, wie es der Soziologe Ulrich Beck formuliert, von der prekären Existenz in der „Risikogesellschaft“ geprägt – und damit der Möglichkeit eines wirtschaftlichen und sozialen Absturzes.

Ihre steigende Angst vor Kriminalität ist deshalb der Schlüssel für den Erfolg der neuen Ausgrenzungspolitik. Solange die Angst vor einem Einbruch höher ist als die vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, kann man auch hierzulande, unter welchen Regierungsfarben auch immer, an den „Reagonomics“ weiterbasteln, ohne Angst vor sozialen Verwerfungen oder der Aufkündigung des Konsens' der „Neuen Mitte“ haben zu müssen. Die Definitionsmacht über den Begriff der Sicherheit, das ist heute nicht anders als zu Zeiten der DDR-Staatssicherheit, ist ein wesentlicher Bestandteil zur Sicherung der Herrschaftsgrenzen.

Je definierter allerdings die Räume der Unsicherheit, die „gefährlichen Orte“, werden, desto mehr stellt sich die Frage danach, welche Sicherheiten die Grenzen bieten und an welche Grenzen die neue Sicherheit stößt.

An der Stadtgrenze zwischen Berlin und Potsdam, jener Schlösser- und Gärtenlandschaft, der Karl Friedrich Schinkel und Peter Josef Lenné einmal den klangvollen Namen „Preußisch Arkadien“ verliehen hatten, findet sich heute eine luxuriöse Wohnanlage. Ihr Name: „Preußisch Arkadien.“ Ihr Versprechen: Sorgenfrei leben hinter Zäunen, Videokameras und Bewegungsmeldern.

In den USA hat der Trend zu „Gated Communities“, dem Wohnen hinter Hochsicherheitszäunen, bereits in den achtziger Jahren eingesetzt. Über acht Millionen US-Bürger, schätzen die Autoren Mary Gail Snyder und Edward Blakely, würden mittlerweile in einer der 20.000 Gated Communities leben. In ihrem Buch „Fortress America“ haben sie nicht nur die Marktbedingungen dieser neuen Wohnform untersucht, sondern auch deren Auswirkungen auf die Stadt als soziales Gebilde.

Ihr Ergebnis ist so verblüffend wie einfach: Gated Communities verstärken eher die Angst vor Kriminalität, als dass sie vor ihr schützen. Der Grund für diesen scheinbaren Widerspruch liegt darin, dass das subjektive Sicherheitsgefühl mit den angebotenen Sicherheitsmaßnahmen nicht in dem Maße steigt wie das subjektive Bedrohungsgefühl, ausgelöst durch Zäune und Videoüberwachung und der Angst, diese Technologien könnten versagen.

Ein Teufelskreis der Entfremdung, bei dem die Angst – jener „Schwindel der Freiheit“ (Kierkegaard) – die Möglichkeiten, sich vor ihr zu schützen, bei weitem übersteigt.

Das ist auch in „Arkadien“ spürbar. Zwar entfaltet die Sicherheitstechnik, kaum hat man die Grenzen von „Arkadien“ passiert, ihre Wirkung. Man fühlt sich, als würde man alle Probleme und Sorgen am Eingang zurücklassen. Wer aus der sicheren, fast surrealen Welt von „Arkadien“ allerdings wieder den Weg nach draußen antritt, bekommt es plötzlich mit einer Furcht zu tun, die er nie empfunden hätte, ohne Arkadien, dieses verräumlichte Versprechen der Sicherheit, zu betreten.

Jedes Auto, das auf der Straße entlangrauscht, ist plötzlich eine Gefahr, weil man hier, im fremden Raum der Stadt, wieder selbst für eigene Sicherheit verantwortlich ist. Jeder, der hier frei herumläuft und grundlos lacht, ist ein Angriff auf die eigene Angst. Oder bestehen sie etwa nicht, die in T. C. Boyles „América“ so treffend beschriebenen Zweifel daran, dass es keine endgültige Sicherheit gibt? Dass die „kriminelle“ Energie der Ausgeschlossenen, derer da draußen, womöglich immer größer sein wird als die Verteidigungskünste derer, die sich auf der sicheren Gewinnerseite wähnen?