Nach der Erde bebt das Volk

■  Kaum mehr Überlebenschancen: Ausländische Hilfsorganisationen stellen ihre Arbeit im türkischen Erdbebengebiet ein. Kritik der Bevölkerung an unfähigen Politikern und abwesenden Soldaten wächst

Berlin (taz) – Fünf Tage nach dem heftigen Erdbeben in der Türkei wächst dort die Kritik an der Unfähigkeit der politischen und militärischen Führung, eine effiziente Katastrophenhilfe auf die Beine zu stellen. Das Militär, mit 800.000 Soldaten eines der stärksten der Region, wurde wegen mangelhaften Engagements kritisiert: Nach Angaben der Militärführung waren bisher 53.000 Soldaten im Erdbebengebiet eingesetzt, doch vor Ort war diese Präsenz nicht wahrzunehmen. Auch wurde bemängelt, an einzelnen Stellen hätten sich die Soldaten vor allem um die Bergung verschütteter Militärangehöriger gekümmert. Der Chef des Generalstabs, Hüsseyin Kivrikoglu, wies die Kritik von sich, stockte aber die Zahl der eingesetzten Soldaten auf und wies daraufhin, dass seine Truppe auf Anforderung für weitere Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehe. Die verspätete Anforderung an die Militärs geht offenbar auf die Zurückhaltung der Regierung zurück, die nicht durch eine Ausrufung des Ausnahmezustands Macht an das Militär abgeben wollte – der letzte Putsch ist nicht vergessen.

Während Premierminister Ecevit am Samstag die Kritik an der Untätigkeit der Regierung zurückwies, wurden drei Gouverneure der Erdbebenregion wegen Unfähigkeit entlassen und durch Beamte des Innenministeriums ersetzt. Fünf Tage nach dem Beben erließ die Regierung ein Dekret, wonach in der ganzen Türkei alles Gerät den Behörden zur Verfügung gestellt werden soll, das zur Beseitigung von Erdbebenschäden geeignet ist.

Inzwischen schwindet die Hoffnung auf die Bergung Überlebender: Die ersten ausländischen Hilfsmannschaften bereiteten sich gestern auf ihren Abzug vor. So verließen britische und holländische Hilfsteams die Stadt Adapazari, um den Weg für Bulldozer freizumachen, die das betroffene Gelände planieren sollen. Am Sonntag war noch ein 57-jährige Frau lebend geborgen worden. Die starke Hitze der letzten Tage lässt befürchten, dass die unter den Trümmern Begrabenen mittlerweile an Wassermangel gestorben sind. Hingegen sind für die nächsten Tage starke Regenfälle vorhergesagt, was die Unterbringung der Obdachlosen erschweren wird.

Die Zahl der Toten wurde gestern Mittag auf über 12.000 geschätzt, unter den Trümmern liegen vermutlich weitere 35.000 Menschen. Nach Angaben der Tageszeitung Radikal wurden die Stadt Gölçük und fünf Orte in der besonders betroffenen Provinz Sakarya wegen Seuchengefahr unter Quarantäne gestellt. Für Gölçük wurde diese Nachricht allerdings von der Provinzregierung dementiert. Gouverneur Memduh Oguz erklärte zugleich, es sei ab sofort privaten Autos nicht mehr erlaubt, zwischen Gölçük und Izmit zu fahren, um die Straße für Hilffahrzeuge freizuhalten. In verschiedenen Städten werden inzwischen Massengräber ausgehoben, in den Städten Desinfektionsmittel versprüht.

Während Istanbul am Sonntag von Nachbeben erschüttert wurde, sagte Wohnungsbauminister Koray zu, zehntausende (von ca. 200.000) Obdachlose würden provisorische Unterkünfte erhalten. Ferner ist die Unterbringung von Erdbebenopfern in Sporthallen, Jugendheimen und leer stehenden Ferienwohnungen vorgesehen. -ant-

Tagesthema Seiten 2 und 3