Münchhausen sucht den Gral

Ein kleiner Stolperer des alten und neuen 100-m-Weltmeisters Maurice Greene ist nötig, um dem von ihm dominierten Sprint neues Leben einzuhauchen    ■ Aus Sevilla Matti Lieske

Ob ihm denn die erfolgreiche Jagd auf den Taschendieb am Flughafen von Sevilla geholfen habe, auch Bruny Surin zu erwischen, wurde Maurice Greene am Sonntag nach dem WM-Finale über 100 Meter gefragt, doch der frisch gebackene Champion lachte nur. Das habe damit nichts zu tun.

Ganz so abwegig war der Gedanke mit der Diebeshatz aber doch nicht. Der Grund, warum Greene dieses Rennen trotz eines Fehltritts zu Beginn noch gewann, war weniger, dass er einfach der Schnellste ist, sondern vielmehr, dass er seine Fähigkeiten auch unter großem Stress optimal einsetzen kann. Sei es nun bei der Dingfestmachung eines spanischen Kleinkriminellen oder in einem überaus unglücklich begonnenen Weltmeisterschafts-Endlauf.

„Man darf vor allem nicht in Panik geraten“, erläuterte er später seine Aufholjagd, nachdem er ausgiebig Gott, seiner Familie, Coach John Smith, seiner gesamten Trainingsgruppe und insbesondere dem verletzt fehlenden Ato Boldon gedankt hatte. „Das ist für dich, Ato“, hatte er kurz nach Überqueren der Ziellinie seinem Kumpanen, Trainingspartner und Rivalen zugerufen, wohl wissend, dass der Mann aus Trinidad einen derartigen Fehler beim Start nicht so einfach hätte durchgehen lassen wie der Kanadier Surin. Der lief auf der schnellen Bahn von Sevilla bei sprinterfreundlich warmer Temperatur das zügigste Rennen seiner Karriere, stellte mit 9,84 Sekunden den kanadischen Rekord von Donovan Bailey ein und war dennoch der Düpierte. Zu früh hatte er sich gefreut, als er nach 75 Metern immer noch die Nase vorn hatte. „Ich wurde ein bisschen aufgeregt, weil ich dachte, dass ich gewinne“, sagte der 32-Jährige, „das hat mich abgelenkt.“ Prompt verlor er seine Lockerheit, seine Muskeln verkrampften ein wenig und er musste zusehen, wie Greene, den sie nicht ganz zu Unrecht „Kanonenkugel“ nennen, noch vorbeifegte wie weiland Münchhausen an den staunenden Türken. „Man kann die Technik noch so sehr trainieren“, meinte Surin, „unter solch extremem Druck vergisst man das Gelernte manchmal einfach.“ Nicht so Maurice Greene. Mit 9,80 Sekunden blieb der US-Amerikaner nur eine Hundertstelsekunde über seinem Weltrekord und war darob sogar ein wenig enttäuscht. „Ich dachte, es wäre schneller“.

Sprinterpapst John Smith war voll des Lobes über seinen gelehrigsten Schüler, der dieses Rennen vor allem dank einer Fertigkeit gewann, die der englische Mittelstreckler Sebastian Coe einmal als „Racecraft“ bezeichnet hatte, die Kunst in jedem Augenblick des Laufes das Richtige zu tun. „Ich habe für jedes Rennen einen Plan, an den ich mich genau halte“, beschreibt Greene das von Smith entlehnte Erfolgsrezept, „aber man muss sich auch dem Rennverlauf anpassen, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert.“ Weisheiten, wie sie der kalifornische Erfolgstrainer selbst gern verbreitet und die dazu beitrugen, dass Greene, der nach den Olympischen Spielen von Atlanta 1996, wo er nicht einmal qualifiziert war, aus Kansas City zu John Smith kam, zum dominierenden Sprinter in der Welt wurde. Von einem Sieg im „Carl-Lewis-Stil“ – das Feld von hinten aufrollen – schwärmte der Coach nun in Sevilla und davon, dass der Weltmeister ein „Näschen für die Ziellinie“ habe. Dieser verriet, dass er eine bessere Technik „als viele andere“ besitze, wichtiger ist es jedoch, diese auch umzusetzen.

Was nichts daran ändert, dass er gemeinhin bevorzugt, von Anfang an vorneweg zu flitzen, und dies meist auch tut. Insofern hat er dem Männersprint durch seinen kleinen Fauxpas einen gewaltigen Dienst erwiesen. Ebenso wie bei den Frauen mit Dauersiegerin Marion Jones drohte sich auch bei den Männern angesichts der Unschlagbarkeit von Greene eine gewisse Langeweile einzunisten. Sevilla hat gezeigt, dass die Kanonenkugel immerhin eine menschliche ist und neben Boldon auch jemand wie Bruny Surin eine reelle Chance hat. Die Erkenntnis des WM-Finales 1999 lautet: Das Olympiagold von Sydney im nächsten Jahr ist noch zu haben, und es werden – vorausgesetzt, es gibt keine pharmazeutischen Widrigkeiten – wohl Greene, Boldon und Surin sein, die darum sprinten.

Besonders für Maurice Greene stellt Sydney so etwas wie den Heiligen Gral seiner Karriere dar. Sein zweiter WM-Titel ist in den leichtathletikabgewandten USA nicht mehr als eine Randnotiz zum Home-Run-Rennen zwischen Sammy Sosa und Mark McGwire, selbst der Weltrekord hat ihn nicht unbedingt berühmt gemacht im eigenen Land. Um wenigstens annähernd die Statur eines Carl Lewis oder Michael Johnson zu erreichen, muss der Olympiasieg her.