In der Kunstgeschichte verflogen

Bungee-Sex ist lustig, aber nicht befriedigend. Die Uraufführung von Robert Lepages multidisziplinärem technologischem Cabaret „Zulu Time“ beim Theater Spektakel in Zürich zeigt, dass das Ganze auch weniger als die Summe seiner Teile sein kann  ■   Von Christiane Kühl

Die Fantasie vom Stewardessen-Vögeln ist vermutlich älter als der Traum vom Fliegen selbst. Auf alle Fälle scheint sie die Vorstellungswelt nachhaltiger zu beeindrucken. Während der Lufttransport in der mobilen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts eine Selbstverständlichkeit geworden ist und Frequent Travellers bereits vor dem Take-off einnicken, sind die Mädchen in Uniform noch immer extrem aufregend. Das erzählt Robert Lepage. Und er muss es wissen, denn der 42-jährige frankokanadische Regisseur fliegt seit seinem internationalen Durchbruch vor zwölf Jahren unentwegt durch die Weltgeschichte.

„Zulu Time“, Lepages jüngstes Stück, das am Donnerstag zur Eröffnung des Zürcher Theater Spektakels uraufgeführt wurde, handelt vom Fliegen, sexueller Begierde und Bewegungen im identitätslosen Raum. Wenn es überhaupt von etwas handelt. Und wenn es überhaupt ein Stück ist. Lepage selbst nennt es ein „Cabaret technologique“, dessen Form vom Varietee der 30er-Jahre inspiriert sei, einer Freizone, wie er schreibt, die es jedem einzelnen beteiligten Künstler erlaubt habe, sich sowohl ästhetisch als auch ideologisch gegen alles zu stellen, was bis dahin zu sehen gewesen sei. Tatsächlich hatten die Experimente bereits in den Zehner- und Zwanzigerjahren auf den europäischen Bühnen begonnen, und „Zulu Time“ trägt nicht wenigen dieser Ansätze des Futurismus, der Merz- und Bauhausbühne Rechnung. Das Wort tritt in seiner Inszenierung ganz zurück hinter ein Raum-, Ton- und Lichtkonzept, dessen Spaß an der Mechanisierung und – mittlerweile – Elektronifizierung des Theaters nicht zu übersehen ist. In eine Werft am Zürichsee hat der Künstler ein hohes Stahlgerüst gestellt, an dessen Längsseiten sich jeweils Zuschauertribünen erheben. Hinter dem Publikum befinden sich Lautsprecherboxen, über ihm gleiten Roboter, vor ihm sieht es Monitore, Videoprojektionen, Schauspieler, Musiker, Computer, eine ausgezeichnete, stets ihre Proportionen verändernde Stahlbühne und die andere Hälfte des Publikums. Manchmal werden die Elemente simultan manipuliert, meistens nacheinander; Lepage hält konsequent an der Varieteestruktur als Nummernrevue fest. Lose verbunden werden die Szenen durch die nichtlogische Folge der Begriffe des internationalen Flugalphabets von Alpha über Delta bis Zulu. Das darin enthaltene theatralische Potential wird in der ersten Sequenz mitgeteilt: „J“ steht tatsächlich hier für Juliet und „R“ für Romeo. Doch statt eines überwindbaren Balkons trennen sie Zeitzonen, kulturelle Differenzen und eine universale Orientierungslosigkeit. Letztere wird verstärkt durch die heimliche Überschreibung der Vokabeln mit einem neuen Code, in dem „M“ nicht Mike, sondern Mafia, „L“ nicht Lima, sondern Libido und „V“ nicht Victor, sondern Virus ist. Die Abkehr von einer linearen Erzählstruktur äußert sich darüber hinaus in Lepages Vorhaben, die Szenen bei jeder neuen Präsentation der als Work in Progress begriffenen Inszenierung neu zu mischen.

Seit seiner Arbeit mit dem Quebecer ThéÛtre Repère, dessen grandiose „Trilogie des Drachens“ 1987 auch beim Theater der Welt in Deutschland zu sehen war, ist Robert Lepage bekannt für intelligentes Bildertheater, das auf vertrackten Zeitebenen mit wenigen, stets überraschend neu interpretierten Requisiten komplexe poetische Geschichten erzählt. Dabei handelte es sich nicht um jenen in den Achtzigern Revival feiernden Pantominen-Poesie-Kitsch, sondern um eine zwischen real und surreal changierende Bildsprache, die mit einer dreidimensionalen Kinooptik von Schnitt, Schuss-Gegenschuss spielt. Nach diversen Soloprojekten, Shakespeare- und Operninszenierungen sowie zwei Filmen („Confessional“ und „Le Polygraph“) stellte Lepage 1996 eine ähnlich faszinierende moderne Saga wie die „Trilogie“ vor: das mit seiner neuen Compagnie Ex Machina erarbeitete siebenstündige Hiroshima-Projekt „Die sieben Ströme des Flusses Ota“. Ein Jahr später eröffnete er La Caserne, ein multidisziplinäres Produktionszentrum in Quebec. Seitdem bindet der Regisseur, Schauspieler und Bühnenbildner verstärkt international renommierte Künstler in seine Ex-Machina-Projekte.

Für „Zulu Time“ hat Pierrick Sorin, der im vergangenen Jahr den französischen Pavillon der Biennale in São Paulo gestaltete, im Foyer die verführend illusionistische Videoinstallation „Dancing Family“ aufgebaut. Die Kanadier Bill Vorn und Louis-Philippe Demers, die bereits seit 1992 gemeinsam an kinetischen Installationen arbeiten, haben den Himmel voll Roboter gehängt, welche ein herzzerreißendes mechanisches Ballett zwischenschieben. Das österreichische Duo Granular Synthesis, das Videos und Geräusche in Bruchteile von Sekunden zerlegt, um sie dann äußerst sophisticated durch eine Art von audiovisuellem Scratching erneut zu Kompositionen zu fügen, hat drei beeindruckend hämmernde Arbeiten für eine riesige Leinwand entworfen. Und Gordon Monahan, Spezialist für „computer controlled sound environments“, der in Deutschland durch seine Berliner Arbeit „The Glowing Pickle“ mit Bastiaan Maris auf sich aufmerksam machte, steuert mal groovy, mal irritierenden Industrial Sound bei.

Dies alles sind interessante Elemente, doch gemeinsam wirken sie wie zur Fütterung des Entertainment-hungrigen Publikums eingestreut. Auch die mit sechs Darstellern erarbeiteten theatralischen Zwischenstücke verlassen sich auf zirkusreife Effekte und gewinnen selten Dichte. Da wird die Stewardess von sämtlichen Passagieren in Slow Motion penetriert, der Pilot geilt sich an einer Schlangenfrau auf, der Zuschauer sieht weibliche Samurai-Rache und den Traummann vom Bungeeseil aufs Bett fallen. Lepages Bilder entwickeln allein suggestive Kraft, wenn er die Bühnenkonstruktion traumhaft in Bewegung setzt oder die bewährten Film-noir-Sequenzen inszeniert.

Das Konzept des Multidisziplinären geht nur dort auf, wo es zu Überschneidungen kommt: wenn die Tische der Airport-Cafeteria als Steel-Cellos genutzt werden oder sich vibrierende Stahlbleche von Instrumenten in Videoprojektionsflächen der Begierde wandeln. Denn ebenso, wie die Fantasie der Verführung der Flugbegleitung dem Traum vom Fliegen verhaftet ist, ist das Bedürfnis nach Geschichten dem Theater inhärent. Was nicht heißt, dass es befriedigt werden müsste. Doch wer sich ihm versperrt, muss ein überzeugendes Konzept dagegensetzen. Was „Zulu Time“, zumindest in diesem Stadium des Work in Progress, nicht zu bieten hat. „Zulu Time“: Konzept, Regie, Bühne: Robert Lepage