Kabelwerker gegen eigene Abwicklung

Die Beschäftigten des Neuköllner Alcatel-Werkes besetzen für einen Tag ihre Kabelfabrik. Mit der Aktion soll die geplante Schließung verhindert werden. Der Vorstand des französischen Elektro-Konzerns will die Berliner Produktion zum Jahresende einstellen  ■   Aus Berlin Richard Rother

„Dieser eine Tag Betriebsbesetzung war mit Sicherheit nicht der letzte“, sagt Alcatel-Betriebsrat Bernd Seifert

Die Kalifabrik Bischofferode, der Waggonbau Dessau, das Spanplattenwerk Ribnitz-Dammgarten – sie alle wurden von der Belegschaft besetzt, um für den Erhalt der Arbeitsplätze zu kämpfen. Jetzt ist diese typisch ostdeutsche Aktionsform in Westberlin kopiert worden. Pünktlich um sechs Uhr war gestern Schicht für die Frühschicht im Neuköllner Alcatel-Kabelwerk. Der Wachschutz öffnet der Belegschaft bereitwillig die Tore, die Arbeiter von der Nachtschicht schalten die Maschinen ab, die ersten Kaffeemaschinen werden angeworfen.

Auf dem Fabrikgelände, auf dem sonst rund 170 Beschäftigte hochwertige Kabel produzieren, regt sich geschäftiges Treiben – aber anders als sonst. Heute werden Biergartenbänke aufgestellt, Kabelrollen zu Stühlen umfunktioniert und Transparente aufgehängt. Schließlich sollen die Autofahrer auf ihrem Weg von der Neuköllner Hochhaussiedlung in die Innenstadt sehen, worum es geht: „Dieses Werk ist besetzt – Arbeit in Massen, trotzdem entlassen“, ist auf meterlangen Stoffresten zu lesen.

Die Beschäftigten sind empört. „Unser Betrieb schreibt schwarze Zahlen, trotzdem soll er dichtgemacht werden“, sagt Betriebsrat Ralf Brandt. Das sehen die Beschäftigten nicht ein, deshalb haben sie den Betrieb für einen Tag besetzt. Der Schaden für das Unternehmen beläuft sich auf eine Viertelmillion Mark. „Die Konzernspitze in Paris soll sehen, dass wir auch anders können“, sagt Brandt. Der Konzern beabsichtige, die Kabelproduktion komplett aus Berlin nach Frankreich zu verlegen. 170 Arbeitsplätze würden dann wegfallen.

Laut Brandt gibt es eine Studie, derzufolge die Produktion in Berlin zu teuer sein soll. In Frankreich könne billiger produziert werden. „Diese Studie hat aber noch niemand zu Gesicht bekommen“, sagt Brandt.

Das Berliner Werk führe Millionengewinne an den Konzern ab, er sei ausgelastet und arbeite produktiv, sagt der Betriebsrat. So lange der Konzern nicht die Gründe für seinen Beschluss, das Berliner Werk zum Jahresende zu schließen, offen lege, können die Mitarbeiter auch keine Alternativen aufzeigen, wie die Produktion noch zu verbessern sei, kritisiert Brandt bei einem Rundgang durch die riesige Produktionshalle.

Wo sonst ohrenbetäubender Lärm herrscht, ist es an diesem Tag still. Über einer Maschine hängt ein Schild: „Sicherheit. Ein Gewinn für alle.“ Jürgen Kehnscharper lächelt bitter: „Unsere Existenzsicherheit ist damit wohl nicht gemeint“, sagt der 35-jährige Kabelfertigungsmechaniker. „Sollte ich meine Arbeit verlieren, muss ich wohl einen dieser berüchtigten Dienstleistungsjobs machen und werde Wachschützer für acht Mark brutto pro Stunde“, meint Kehnscharper.

Die Resignation ist bei den Berliner Beschäftigten in den klassischen Arbeiterberufen weit verbreitet. Seit 1990 wurden mehr als 270.000 Arbeitsplätze in der Industrie abgebaut; in der Diensleistungsbranche entstanden gerade mal 100.000 neue Jobs. Die sind aber entweder unattraktiv, weil sie schlecht bezahlt sind, oder sie erfordern eine für ehemalige Industriearbeiter schwer zu erwerbende Qualifikation. Kehnscharper kann sich jedenfalls nur schwer vorstellen, Medienberater oder Software-Entwickler zu werden.

Auch Faruk Kapan weiß nicht, wie es nach dem Jahreswechsel weitergehen soll. „Wie soll ich meine zwei Kinder ernähren?“, fragt der Maschinenführer, der mit seinen Kollegen auf dem Hof Karten spielt. Die Stimmung ist dennoch ziemlich gelassen. Die Besetzer – mehrere Dutzend sind an diesem sonnigen Vormittag anwesend – vertreiben sich die Zeit, so gut es geht: Die einen spielen Backgammon, andere Fußball oder Federball.

Ein Lautsprecherwagen der IG Metall sorgt für Beschallung: Türkische Volksmusik, deutsche Schlager, amerikanische Popsongs, für jeden ist etwas dabei – rund die Hälfte der Alcatel-Belegschaft sind Ausländer. Eine entspannte Volksfestatmosphäre. Aber der Ärger der Beschäftigten kommt immer wieder durch. Wir müssten dem Pariser Vorstand „auf die Bude rücken“, meint Kehnscharper. Auf die französischen Kollegen, die von der Standortverlagerung profitieren würden, ist er nicht böse. „Das hat ganz klar der Vorstand zu verantworten.“ Alcatel sei dafür bekannt, Werke der Konkurrenz aufzukaufen, um sie dann dichtzumachen.

Die Besetzer vertreiben sich die Zeit, so gut es geht: Die einen spielen Backgammon, andere Fußball oder Federball

Auch Wirtschaftsenator Wolfgang Branoner (CDU) hat jüngst in einer Sitzung des Abgeordnetenhauses das böse Wort von der „Marktbereinigung“ in den Mund genommen. Kein Wunder, dass sich alle politischen Lager der Stadt in dieser Frage einig sind. Das Verhalten des Alcatel-Vorstandes sei skandalös, heißt es fast gleichlautend. Für die Politiker im Wahlkampf ist kurzer Besuch bei den Besetzern Pflicht. Am Morgen war der SPD-Spitzenkandidat Walter Momper da, für den Abend hatte sich der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) angekündigt. Das Werk dürfe nicht geschlossen werden, so der Tenor.

Betriebsrat Bernd Seifert überlegt dennoch schon mal realistisch, wie es weitergehen wird. Zur Zeit verhandelt der Betriebsrat über einen Sozialplan. Seiferts Forderung: die Gründung einer Beschäftigungsgesellschaft für mindestens zwei Jahre sowie „eine anständige Abfindung für jeden“. Aber auch um diese Forderungen durchzusetzen, sei Druck nötig.

„Dieser eine Tag Betriebsbesetzung war mit Sicherheit nicht der letzte“, sagt Seifert.