Ratlos im Takt der glorreichen Acht

Der deutsche Ruder-Achter droht sich bei der Weltmeisterschaft im kanadischen St. Catharines nach Kräften zu blamieren – und keiner der Beteiligten weiß warum. Eins ist jedenfalls klar: Am Rudern kann es nicht liegen  ■   Von Rüdiger Barth

Wir wollen ja nicht stören. Bestimmt nicht. Aber in diesen Tagen, an denen alle nach Sevilla schielen und die Bayern in die Krise torkeln, ginge das sonst unter. Also: In St. Catharines drüben in Kanada ist Ruder-WM. Und dort geht zur Zeit der sogenannte Deutschland-Achter baden. Was sagen wir, da geht Deutschland baden! Fünfter ist er im Vorlauf geworden. Im Vorlauf! Mit acht Sekunden Rückstand. Es ist ein Wunder, dass sie den Vizeweltmeister überhaupt noch zulassen heute Nachmittag zum Hoffnungslauf.

Wie kann das sein, dass das deutsche Flaggschiff der Konkurrenz hinterhereiert? Seit 1986 hat der Achter kein Finale mehr verpasst. Insasse Stefan Forster lobte nach dem Desaster das „technisch gute Rennen“ und wunderte sich nur über den „verwunderlichen Ausgang“. Sein Schlagmann Marc Weber sagt: „Wir sind absolut ratlos.“ Erklärungen tun also Not.

Eins vorweg: Ruderer sind seltsame Leute. Sie sehen nicht, wohin sie steuern, aber sie müssen sich in die Riemen legen, als wüssten sie's. So ist das natürlich auch beim Achter. Als nicht rudernder Laie würde man ja davon ausgehen, dass dabei nichts so wichtig ist wie kräftige Schultermuskeln oder eine ballongroße Lunge. Aber man höre und staune: Das Ohr ist es auch. Zumindest sagt das einer, der im deutschen Achter sitzt. „Sperr die Ohren im Boot auf“, sagte Ike Landvoigt noch, bevor er aus Berlin abreiste. „Du hörst, wie die Konkurrenten schnauben, wie ihre Ruderblätter patschen. Was du hörst, bestimmt deine Taktik.“

Deshalb ist das Schlimmste beim Rudern, hinterherzupaddeln: Man sieht nichts, wenn man hinten ist. Vertraut man nun dem Steuermann, der ruft: „Gleich habt ihr sie“, obwohl schon lange nichts anderes zu hören war als das eigene Keuchen? Die Strecke in Kanada ist windanfällig, ein Orkan pfiff allerdings nicht. Nicht immer helfen die Ohren beim Rudern.

Vielleicht – man wagt es kaum zu sagen – lag es ja daran, dass das Boot in schnittiges Radler-Rosa getaucht ist? Der Deutschland-Achter ist nämlich ein Telekom-Achter. Dafür erhalten die Athleten pro Jahr ein Sponsoringsümmchen von über 500.000 Mark und jede Menge Ärger mit ihrem Verband, der dem Team den Vertrag neidet. Denn der DRV hat 1998 ein Minus von 50.000 Mark erwirtschaftet und lässt seine Sportler für ein Trainingslager 1.000 Mark bezahlen.

Sechs Wochen ist es her, dass sich vor allem die Achter-Crew und DRV-Präsident Wolfgang Maennig mächtig zankten. Seitdem herrscht Waffenstillstand, kein Frieden. „Ohne die Marketingrechte sind wir bald pleite“, sagt Maennig, der selbst 1988 im Gold-Achter saß und inzwischen Professor für Wirtschaftspolitik ist. Man kennt die Diskussion vom Fußball, nur läuft es hier umgekehrt. „Wie wir uns vermarkten, hat sich als demokratische Mitbestimmung bewährt“, sagt Aktivensprecher Forster, als ginge es um den Fortbestand der Demokratie und nicht um Kohle, und setzt nach: „Es wäre das Beste, der Vorstand tritt komplett zurück.“

Zwar verebbte der Streit, aber seitdem er eskaliert ist, ist der Achter außer Form. Beim letzten großen Test vor der WM, der altehrwürdigen Rotsee-Regatta in Luzern, trudelte das deutsche Boot vor sechs Wochen im Finale nur auf dem sechsten, dem letzten Platz ein.

Am Montag nun soff das Boot auf dem Henley Rowing Course nahe Toronto ab. So viele wirkten stärker: die Holländer, die Russen, der Weltmeister USA. Ob für den Hoffnungslauf noch Hoffnung ist? Ike Landvoigt, der mit den Ohren, sagt sowieso: „Erfolg ist nicht planbar.“ Ein Achter ist ein komplexer Organismus, 18 Meter lang. Alle machen exakt das Gleiche; wenn einer ausschert, hat das Boot sofort ein Problem. „Jeder ist für das Tempo verantwortlich“, sagt Landvoigt. Auf der anderen Seite aber könne man sich im Achter auch mal verstecken – Teamsport eben. Womit wir wieder beim Vorlauf wären. Versteckten sich da vielleicht alle acht gleichzeitig?

An diese Möglichkeit sollte man denken, wenn man die Athleten das nächste Mal beobachtet, aus dem Achtfüßler die Gesichter zu lösen versucht – schmerzverzerrte Gesichter sind das. Da als Zuschauer nicht den Atem anzuhalten ist eine Leistung für sich.

Aber wahrscheinlich ist so ein heimliches Untertauchen nicht. Im Achter reißen die Ruderer ja mit beiden Armen an einem Riemen – wie auf einer Galeere. Lässt einer nach, ist der Rhythmus empfindlich gestört. „Man spürt jeden Fehler mit dem Hintern“, sagt Stefan Heinze, der letztes Jahr noch im Boot saß und dieses Jahr den Vierer ohne anführt.

Und jedes noch so raffinierte Versteckspiel muss spätestens im „schwarzen Tunnel“ enden, wenige Schläge vor dem Ziel, wenn keiner mehr Kraft und keiner mehr Luft hat, aber der Endspurt droht. „Man kann beim Rudern nicht einfach aufhören“, sagt Heinze, „Radfahrer können runterschalten, 400-Meter-Läufer fallen um, aber wir machen weiter. Bis es schwarz wird vor den Augen.“ Festgebunden an den Riemen, im Takt der glorreichen Acht. Bis zur totalen Übersäuerung.

Soll man so etwas glauben? Man darf es ruhig glauben. Keiner leidet so schrecklich wie Ruderer. Wenn also heute der Achter den zweiten Platz verpasst und damit den Endlauf und die Qualifikation für Sydney 2000: Am Rudern hat es nicht gelegen.