Löwe der Gegenwart

■  Der Pate des Pop ist tot. Nachdem New York Europa die moderne Kunst stahl, machte sie Leo Castelli dort erst richtig groß. Nun starb der New Yorker Galerist im Alter von 91 Jahren

Ein Großbürger mit jüdischen Wurzeln im Habsburger Reich, der der Kunst in die amerikanische Gegenwart heimleuchtete

Es schien so, als wollte er sein Jahrhundert überleben. Aber Leo Castelli, der New Yorker Galerist, starb am Samstagabend, zwei Wochen vor seinem 92. Geburtstag. Er, der sich angeblich montags langweilte, „weil ich dann nicht in meine Galerie gehen kann“, hat bis zuletzt an seinem Unternehmen festgehalten, trotz Herzschrittmacher und Hörgerät. Leo Castelli, längst nicht mehr der Umsatzlöwe der Branche, war zu einem Mythos geworden.

Castelli, heißt es, sei in seinen Beruf mehr hineingesegelt, als dass er ihn gewählt hätte. Als wohl situierter Exilant hatte er in den damals entlegenen Küstenorten Long Islands die Repräsentanten der New York School kennengelernt; mit Willem de Kooning war er befreundet. Aber nicht die Künstler seiner eigenen Generation, die heroisch mit dem europäischen Erbe rangen, brachten Castelli zu seiner Bestimmung, sondern einige wesentlich jüngere Maler. Während er Rauschenberg, Jasper Johns und Roy Lichtenstein auf den Sockel hob, musste ihm allerdings ein junger Ehrgeizling namens Andy Warhol die Bude einrennen, um in das Gravitationszentrum der neu ausgerufenen Kunst zu kommen, die jemand scharfsinnig Pop-art getauft hatte.

Was Castelli Bewunderung und Hass eingetragen hat, war seine drängende und unumstößliche Zeitgenossenschaft, seine Sicherheit, Schlüsselkunst zu verstehen und zu vermitteln. Diese Sicherheit grenzte bisweilen an Prophetie. Castelli ging so weit, unbekannte Künstler ohne Verkaufserfolge – wie ab 1967 Richard Serra– mit monatlichen Stipendien abzusichern, bis sie ihm die Werke brachten, die er dann ausstellte und weltweit verkaufte, an Sammler und Museen. Für Serra kam das einigermaßen überraschend: „Es war, als hätte ich ein Rockefeller-Stipendium gewonnen.“

Einiges behielt Castelli selbst, zum Beispiel Rauschenbergs übermaltes „Bed“, das er in einem triumphalen Akt einer Schenkung dem New Yorker Museum of Modern Art vermachte, 1988, auf dem Höhepunkt des Kunstbooms. „Er benahm sich, als sei das Geschäft eine Unterabteilung von Geselligkeit“, fasste die New York Times dieses Gebaren in ihrem Nachruf zusammen.

Leo Castelli war 1907 als Leo Krauss in Triest geboren worden. Als die Stadt nach dem Ersten Weltkrieg italienisch wurde, nannte sich die Familie fortan wie ihr mütterlicher Zweig Castelli. Im Krieg, Leo war noch ein Kind, hatte die Familie in Wien gelebt. Er studierte Jura in Mailand und traf in Bukarest, als Angestellter einer Versicherung, seine zukünftige Frau Ileana Schapira, die später in New York unter dem Namen ihres zweiten Mannes, Sonnabend, als Galeristin zwar zurKonkurrentin wurde, aber ansonsten eine Freundin blieb.

1943 kam Castelli als Soldat der U.S. Army nach Europa zurück und wurde für seinen Einsatz – unter anderem als Übersetzer – nachträglich mit der amerikanischen Staatsbürgerschaft belohnt. Dieses paradoxe Schicksal sollte später mit ihm der Rockpromoter Bill Graham teilen, der in Korea kämpfte, bevor er Amerikaner wurde. Darüber hinaus begriffen beide die kulturelle Kraft der siegreichen Nation und deren kommerzielle Bedeutung, während andere das Phänomen Pop noch abtaten wie einen schlechten Witz.

Castelli war schon über fünfzig Jahre alt, als er Rauschenberg und Johns entdeckte, deren Werke er östlich des Central Park ausstellte, in einem Haus, das Ileanas Vater gehörte, vor der Hitlerzeit einer der reichsten Männer Rumäniens. Leo Castelli, als Banker geschult, fuhr schon im ersten Jahr seiner Galerie, 1957, Gewinne ein. Vormals Hobbykunsthändler aus dem Wohnzimmer heraus – mit Kandinsky-Gemälden –, entdeckte Castelli die öffentliche Rolle des Galeristen, die er in den folgenden vierzig Jahren mit Bravour spielte. 1971 eröffnete er seine Räume im Haus 420 West Broadway, womit der Aufstieg SoHos zum Kunst- und Künstlerviertel absehbar wurde. Mit seinem Engagement für Frank Stella hatte er eine Tür zum Minimalismus geöffnet, dessen karges, aber definitionsstarkes Labyrinth mit Castelli-Künstlern ausgebaut wurde: Robert Morris, Dan Flavin, Donald Judd und Joseph Kosuth. Bruce Naumans illusionslose und autoaggressive Befragung des Künstlers als Sinnproduzenten begriff Castelli als letzte gültige Position moderner Kunst.

Seine Deals mit jüngeren Künstlern konnten noch helfen, Karrieren zu starten, aber sie spielten keine Energien mehr in die Galerie zurück. Warhols Tod 1987 macht das Unternehmen historisch und warf gleichzeitig die Frage auf, ob Castelli kaltschnäuzig genug sei, hochkarätige Hinterlassenschaften gewinnbringend abzuwickeln.

Auch wenn der Name mit Erfolg und Reichtum verknüpft war – es war der Ruhm, dessen Früchte Leo Castelli mit Genugtuung erntete, der die letzten zehn Jahre seines Lebens geprägt hat. Er war der Mann, der amerikanische Kunst in Europa groß gemacht hatte; ein eloquenter Großbürger mit jüdischen Wurzeln im Habsburger Reich, der gerade einer Kunst der Voraussetzungslosigkeit, der Entleerung von Annahmen, der Oberfläche heimleuchtete in die amerikanische Gegenwart.

Im Rückblick allerdings erscheint Castelli als altertümlicher Galerist, der für seine Künstler lebte und dem nichts ferner lag als eine gewinnträchtige Fusion mit anderen Unternehmen – die gegenwärtige Form des Business. Längst nicht alle Künstler sind bei ihm geblieben; Johns ja, Rauschenberg aber nicht. Der nannte Castelli, den andere als warmherzig und charmant priesen, einen „egoistischen Wahnsinnigen“.

Des Greises dritte Ehe, geschlossen mit einer ehrgeizigen italienischen Frau namens Barbara Bertozzi – fünfzig Jahre jünger als er selbst –, entfremdete dann die letzten Getreuen des Unternehmens und leitete dessen Niedergang ein. Die SoHo-Galerie wurde kürzlich geschlossen und die wertvollen Restbestände der jüngeren Kunstgeschichte von der Upper East Side aus verwaltet, wo Castelli vierzig Jahre zuvor begonnen hatte. Sein Leben endete in Manhattan, dem er als Schauplatz einer leuchtenden, intelligenten Szene deutlich Impulse gegeben hat. Ulf Erdmann Ziegler