Tschüss Isolde

Frau Plötzwich ist Wirtin. 40 Jahre lang stand sie hinter der Theke der Rund-um-die-Uhr-Kneipe „Zum Haltepunkt“ im Steintor. Am Mittwochmorgen wird eine Legende geboren, denn dann macht sie Schluss  ■ Von Mark Scheibe

Wenn gerade niemand Geld in die Juke-Box wirft, hört man ein verwegenes kleines Radio. Hinter dem Tresen des Lokals „Zum Haltepunkt“ im Bremer Steintor-Viertel sorgt es eher für Ruhe. Es läuft „Arrivederci Claire“. Wie zum Abschied. Denn nach 40 Jahren Rund-um-die-Uhr-Betrieb will die 63-jährige Wirtin Isolde Plötzwich das Lokal am Mittwochmorgen schließen. Unser Autor war oft im „Haltepunkt“ und bezeichnet die Durchmachkneipe als eine Oase der Ruhe und der Besonderheit im Bremer Herzen. Heute berichtet er in der taz von selbst Gesehenem und den schillernden Erzählungen Frau Plötzwichs über die vergangenen 40 Jahre im Steintor bei Tag und Nacht. Er wird sie zur Grundlage eines Musicals machen, in dem die folgenden Geschichten aus dem Haltepunkt auch nach der Lokalschließung lebendig bleiben werden ...

Ein Mann mit Vollbart und einem Kittel, in dem Schraubenzieher stecken, unterhält eine kleine Gruppe von introvertierten Sonderlingen mit Wahn im Blick und auf besondere Weise im großen Stil. Zwei junge Schauspielerinnen sitzen am Tisch in der Ecke, dort, wo früher ein Aquarium stand. Ihre Köpfe stecken zusammen, sie tauschen sich angestrengt über Dinge aus, für die nur sie sich interessieren, der Mann geht zu einer von ihnen und bietet 1.000 Mark an für den Fall, daß sie sich, wie er formuliert, nackig machen würde.

Die Damen waren irritiert und als der Mann lachend zurück zum Tresen und zu seinem Edel-Hell ging, sprach man fortan darüber, was man mit tausend Mark alles anstellen könnte ohne ernsthaft die Erwägung zu haben, sich tatsächlich im Haltepunkt auszuziehen. So, wie es des Häufigeren – hat man berichtet – geschah, daß ein zahlungsunwilliger Zecher zum Pfand seine Hosen, und, als sei das noch nicht genug der Schmach, einen seiner Schuhe zurücklassen mußte, damit man auch wirklich gewiß sein konnte, er käme wieder zum Zahlen.

Eine Zeit war dies Sitte im Haltepunkt, so kam eines Tages ein verwirrter und hilflos wirkender Mann in den Dreißigern tagsüber ins Lokal, wo einer mütterlichen Frau, die dort ebenfalls zu Gast war, prompt dessen zerschlissene Lederhose ins Auge fiel. Die Frau nahm sich seiner an und sagte, das müsse doch nun wirklich nicht sein, man hätte einen Schneider in der Nachbarschaft, der das wirklich mal eben schnell in Ordnung bringen würde, er solle die Hose ruhig ausziehen, sie würde das dann schon alles regeln. Überwältigt von derartiger Fürsorge ließ der Mann seine Hosen herunter. Zum Vorschein kam: Er verbarg in ihr eine furchterregende Machete. Der Wirt, um Sicherheit in Sorge, nimmt ihm diese ab und in Verwahrung, der Mann trinkt. Die Frau kommt zurück, er kann nicht zahlen, die Hose bleibt da (Und ein Schuh).

Ein Betrunkener, der am hellichten Tag ohne Hose durchs Steintor geht, wird schon mal von der Polizei angesprochen. Dabei ergab sich, daß man den Herrn suchte, da er verdächtigt wurde, just seinen Lebensgefährten mit ebenjener Machete zerlegt zu haben, die nun im Haltepunkt leider nicht mehr hinter dem Tresen lag, da ein mittlerweile auch nicht mehr ganz nüchterner Gast, der die Szenerie bislang schweigend beobachtet hatte, dem Wirt für das Buschmesser einen stattlichen Betrag anbot. Da ging das Messer über den Tisch, was im Zusammenhang mit der versuchten Beschlagnahmung der Tatwaffe durch die Polizei zu nicht unerheblichen Schwierigkeiten führte, die hier jedoch nicht Gegenstand sein sollen und die das Bild vom romantischen Ort der Inspiration nur aufs Schändlichste trüben, mit ihrer Sachlichkeit! Was sind schon Dinge!

Was sind schon Dinge, wenn man den Mann erlebt, den sie James nennen, wie er graubärtig, mit einem Lächeln auf den Lippen in der hintersten Ecke sitzt und mit bis zu sechs verschiedenen Stimmen ausschließlich mit sich selbst spricht. Was sind schon Dinge, wenn man sehen darf, wie ein trunkenes Pärchen verliebt auf der Toilette verschwindet und später beide völlig zerzaust und friedlich grinsend am Tresen sitzend noch einen Jägermeister trinken, während das winzige Radio „Ich möcht so gern Dave Dudley hören“ singt, mit nasaler Stimme.

Heiner steht hinter der Bar, poliert gelangweilt ein Bierglas und begrüßt zwei junge Männer, die nach Kaffee fragen, mit der mürrischen Antwort, dies sei keine Teestube, um dann doch mit schüttelndem Kopf den Drehverschluß der Warmhaltekanne zu öffnen. Ein etwa fünfzigjähriger Mann packt mich am Arm. „Du bist in Ordnung!“ ruft er mir ins Ohr. „Du bist 'n Mensch wie Du und ich.“ Er behauptet, daß er Anwalt in St.Pauli sei. Er heißt Horst und gibt sich unsensibel. Stammgäste überreden ihn zum Würfelspiel und nehmen ihn völlig aus, er hat keine Chance.

Gaby, das Ex-Callgirl, das immer Cointreau trinkt, schmeißt einen Fünfer in die Jukebox und drückt dreizehnmal hintereinander „Manchmal möchte ich schon mit Dir“ von Roland Kaiser. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, mit jedem Mann, der hier war, einen Tanz zu haben, was ihr nur bedingt gelang. Man sah sie auf ihren Stilettos über die Fliesen tapsen und gelegentlich in die Hände klatschen. Sie tanzte in einem völlig anderen Rhythmus. Heiner saß mittlerweile – es war schon sieben Uhr vorbei – auf der anderen, wie er meinte, eigentlich richtigen Seite des Tresens, er hatte Feierabend und wurde abgelöst. Lachend bekam er ein Haake-Beck nach dem Nächsten, seine Laune war fabelhaft! Begeistert erzählt er von aufregenden Zeiten als Chefsteward auf einem Kreuzfahrtschiff, von einsamen Witwen, die seine Nähe suchten und andere Dinge von Stil, Würde und Größe; niemand wagte ein Wort des Zweifels.

Bräunlich gefärbte Sonnenstrahlen fallen durch die vergilbte Gardine, erhellen den vorderen Teil des Raumes. Ein einsamer Trinker gähnt, er muß gleich auf den Bau. Vorher noch schnell ein Pils. Gaby schläft am Tresen, ein Taxifahrer holt sie ab. Die türkische Putzfrau kämpft sich mit ihrem Feudel zwischen den Barhockern durch, ein beißender Geruch von Säuberungsmitteln wirkt auch auf den trübsten Kopf auf schonungslose Art ernüchternd. Durch die offene Tür zieht es kalt herein, auch Heiner ist nicht mehr da und selbst das Radio hat Pause. Zeit, ins Bett zu gehen.

Zugegeben: Dies ist noch lange kein Musical, aber der Anfang für ein Bühnenstück, das die Geschichte des Steintors aus der Perspektive einer Durchmachkneipe erzählt und das die Atmosphäre dieses einzigartigen Ortes auffängt; in Musik, Tanz und Gesang. In einer Musik, deren Vielfalt mindestens so üppig, widersprüchlich und reich daherkommt wie der wahnsinnige Überfluß der Juke-Box im Haltepunkt mit ihren seltsamen Schätzen von Hans Albers und Les Humphries zwischen Kuschel-Rock und Saufliedern. Der Leser hat schon jetzt die Möglichkeit, sich der Illusion, die nur ein Bühnenstück herbeizaubern kann, durch einen kleinen Kunstgriff zu bedienen: Er gehe in den Haltepunkt – bis Mittwoch, 1. September, ca. 7 Uhr morgens ist dazu noch Gelegenheit – und singe anschließend laut und mit großer Geste über das Gesehene und Erlebte in unprätentiöser Form. Er achte jedoch penibelst darauf, noch vollständig bekleidet zu sein.

„Zum Haltepunkt“, Vor dem Steintor 29; Abschiedsfeier am Dienstag, 31. August, 22.30 Uhr – es musizieren die Feinen Herren und präsentieren ihre neue Maxi-CD „Haltepunkt“