Flaschendrehen als Therapie

Gerade die Erinnerung braucht Erlebnisse: Die Regisseurin Ingrid Hammer und ihre freie Theatergruppe „TiefenEntTrümmerung“ feiern mit dem Stück „Priwjet 99“ ihr zehnjähriges Jubiläum  ■   Von Felix Herbst

„10 Jahre TiefenEntTrümmerung“ klingt nach erfolgreicher Zwischenmeldung in Sachen historisch-therapeutischer Aufräumarbeit. Für eine freie Theatergruppe sind 10 Jahre eine lange Zeit, fürs historische Bewusstsein sind das nur Fitzel. Allerdings, am Ende der spaßigen 90er Jahre auf eine Dekade Theaterarbeit zurückblicken zu können, die sich ausschließlich mit der Zutageförderung von Erinnerungsbruchstücken aus der Zeit von Faschismus und Weltkrieg II beschäftigt hat, nötigt Respekt ab.

Für „Priwjet 99“ hat sich die Gruppe um Regisseurin Ingrid Hammer und Schauspielerin Peggy Lukac den Bunker unter dem Bahnhof Gesundbrunnen ausgesucht. Schon deshalb ein gelungener Ort, weil die historische Spurensuche von einer zeitgenössischen Lust am Ungewöhnlichen stimuliert wird. Gerade die Erinnerung braucht Erlebnisse, sonst erstarrt sie in monumentaler Gewissheit. Die sinnigste Erinnerungsarbeit ist ein selbstständiges, forschendes, gleichsam aktualisierendes Erleben von Geschichte. Es ist interessant, dass die in den letzten Jahren neu entwickelten theatralen Formen genau jene Räume zu erzeugen suchen, in dem sich der Zuschauer frei und assoziativ bewegen kann und dennoch eine inhaltliche Vermittlung gewährleistet ist.

Interessant ist das deshalb, weil jene Entwicklung mit einer anderen einhergeht, die man oft das Ende der Geschichte genannt hat. Und nun wird immer klarer, dass letzteres propagandistische Einfalt gewesen ist und sich die Beziehungen zwischen Kunstwerk, Künstlern und Zuschauern tatsächlich verändert haben. Für die eigene Langeweile die Künstler verantwortlich zu machen gilt nicht mehr. Der Inszenierung von Ingrid Hammer (Rauminstallationen: Fred Pommerehn) ist die Erfahrung in diesen Fragen anzumerken. Durch einen Kerzenpfad wird der einzelne Zuschauer in die Bunkerräume geschickt. Zunächst begegnet man einer zitternden, alten Frau (Peggy Lukac), die versunken in sich hinein murmelt. „Das ist kein Raum für Traurigkeit. Das Leben geht weiter.“

Dann trifft man auf Menschen, die aus alten Briefen und Tagebüchern vorlesen. Es sind Aufzeichnungen von Deutschen und Russen aus den Jahren 1941 bis 1945. Sie erzählen vom Kriegsalltag, von einfachen Sorgen und Ängsten, von der Hoffnung auf das schöne Leben danach und von verzweifeltem Tapfersein. Es bleibt unklar, ob die Lesenden sich selbst oder die historischen Personen darstellen. Ihr Spiel ist von leiser, gebrochener Zärtlichkeit. Dann geht das Licht aus. Stromsperre. Stimmt, man ist ja im Bunker. Gesang ertönt, ein Saxofon jault, ein Hardrockriff dröhnt aus einem Kassettenrecorder, ein Russe verlässt seinen Raum und setzt sich zu seinem deutschen Nachbarn, eine Frau tanzt zum Akkordeon mit Zuschauern. Die Stimmen verschwimmen, werden zum Gemurmel von Abwesenden. Die alte Frau wankt dazwischen umher.

In einem Raum hantiert ein Mann mit leeren Flaschen. Er führt ein therapeutisches Spiel vor, Familien-Stellen. Dabei ordnet er die Flaschen im Raum so an, dass sich daraus das emotionale Muster einer Familiensituation ergibt. Immer wieder tritt der Mann hinter eine Flasche und erzählt, wie sich das jeweilige Familienmitglied jetzt gerade fühlt. Als sich am Ende alle gut fühlen, sind auch die verstorbene Schwester und die Mutter wiederauferstanden.

Nur der SS-Vater, von dem eine eisig-dämonische Kraft ausging, muss draußen bleiben. „Das ist das Lösungsbild“, stellt der Mann befriedigt fest. „Das muss jetzt in der Seele wirken.“ Nach 90 Minuten haben sich alle Akteure aus den Räumen zurückgezogen. Und es lässt sich nach Rückkehr an die Oberfläche Erstaunliches feststellen.

Die Stimmen und Bilder bleiben im Bunker zurück, als wollten sie dort verschlossen sein. Als warten sie dort – nicht drängend, aber bestimmt – darauf, wieder und wieder erfahren zu werden. Ein ungewöhnlich gelungenes Jubiläum.

„Priwjet 99“ immer freitags und samstags bis zum 3. Oktober, Zusatzvorstellung am Antikriegstag, am 1. September, im Gesundbrunnenbunker, U-Bahnhof Gesundbrunnen, Ausgang Brunnenstraße, jeweils 20 Uhr.