Mit Besenstiel in die Ruhmeshalle

Michael Johnson läuft Weltrekord über 400 Meter und hofft, „Historisches“ voll- und seine Kritiker zum Verstummen gebracht zu haben – vorläufig    ■ Aus Sevilla Matti Lieske

Johnson behauptet, dass er nie eine Apotheke betritt, um nicht aus Versehen an Mittel mit verbotenen Stoffen zu geraten

Wenn man Michael Johnson glaubt, ist der einzige Grund, warum er noch solche Unternehmungen wie in Sevilla auf sich nimmt, wo er den elf Jahre alten Weltrekord über 400 m von Butch Reynolds auf 43,18 Sek, verbesserte, dass er es der Welt und besonders den bösen Medien zeigen will. „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll“, jammerte er nach seinem souveränen Titelgewinn bei der Weltmeisterschaft in Sevilla. „Bevor ich vor zwei Jahren in Athen Gold gewonnen habe, gab es Zweifel an mir, in diesem Jahr gab es wieder Zweifel an mir.“

Dabei möchte der 31-Jährige doch bloß geliebt und endlich, endlich als einer der größten Leichtathleten aller Zeiten anerkannt werden.

Die Zeitschrift Sports Illustrated stellt ihn inzwischen immerhin auf eine Stufe mit Jesse Owens, Carl Lewis und Emil Zatopek, dennoch ist der spröde Texaner nach wie vor weit von der Verehrung entfernt, die den anderen drei Jahrhundertathleten zuteil wird. Eigentlich hatte Johnson geglaubt, mit dem von ihm unaufhörlich als „historisch“ apostrophierten Doppelsieg über 200 und 400 Meter bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta die Eintrittskarte in die Ruhmeshalle des Laufsports erlangt zu haben. Doch sein anschließender lächerlicher Streit mit Donovan Bailey, wer der schnellste Mann der Welt sei, und der noch lächerlichere 150 m-Lauf, der die Frage klären sollte und bei dem sich Johnson auch noch einen Muskel zerrte, beförderten ihn schnell wieder in die Warteschlange.

Der Schuft gebe Kindern keine Autogramme, zeterten Kritiker, Gipfel der Majestätsbeleidigung waren für Johnson aber die „lächerlichen“ Vorwürfe, er habe Angst vor Maurice Greene und sei deshalb nicht bei den US-Meisterschaften über 200 m angetreten. „Das hat keinen Spaß gemacht“, klagt er.

Der wahre Grund dafür, dass er die 200 m sausen ließ, sei der Weltrekord über 400 m gewesen, den er sich für diese Saison vorgenommen hatte, eine Bestmarke, die äußerst schwer zu erlangen ist. In den letzten 31 Jahren wurde der 400 m-Weltrekord nur zweimal verbessert, bei den Olympischen Spielen 1968 von Lee Evans, dann, 20 Jahre später, von Reynolds. „Die 400 Meter sind ein extrem schwieriges Rennen“, erläutert Michael Johnson. „Es gibt viele verschiedene Zonen, und was du in der einen tust, beeinflusst die andere. Es muss eine Menge zusammenpassen.“ Seit Jahren würde ihm sein Coach einhämmern, was er wann zu tun habe, und mittlerweile habe er es ziemlich gut begriffen. Für ihn sei der erste Teil der komplizierteste. „Man muss am Start aggressiv sein, aber bei mir als 200-Meter-Läufer besteht die Gefahr, dass ich zu aggressiv bin. Wenn ich die ersten 200 m so laufe, wie es für mich normal ist, bin ich viel zu schnell.“ Die goldene Regel für den Weltrekord: Die ersten 200 in etwa 22 Sekunden, die zweiten in 21.

Es genüge jedoch nicht, in Form zu sein und gut zu laufen, für einen Weltrekord müsse alles zusammenpassen: Wetter, Publikum, Atmosphäre, Motivation. Das sei in Sevilla der Fall gewesen. „Hier hat es unglaublich Spaß gemacht“, sagt der US-Amerikaner.

Eine Rolle habe auch gespielt, dass er erstmals seit langem verletzungsfrei in die Saison gegangen war. Eine Deformation im Rücken, die auch seinem Laufstil zugrunde liegt, der wirkt, als habe er einen Besenstiel verschluckt, stört das Gleichgewicht des Körpers und lässt diesen immer wieder Alarm schlagen. Zuletzt einige Wochen vor der WM. Um das Projekt Sevilla nicht zu gefährden, verzichtete er auf das Meeting in Zürich – und handelte sich neue Feigheitsvorwürfe ein. Umso spektakulärer der Auftritt im WM-Finale, bei der er der Konkurrenz davonstob, als handle es sich um eine Schar Hobbyjogger.

Da stellt sich natürlich die Frage: Geht das alles mit rechten Dingen zu? Michael Johnson, der von sich behauptet, dass er niemals eine Apotheke betritt, um nicht aus Versehen an ein Mittel mit verbotenen Stoffen zu geraten – Präparate mit dem Steroid Nandrolon beispielsweise sind in den USA frei erhältlich – besitzt nun acht der zehn besten 400-Meter-Zeiten, 20 der besten 50. Sein Vorgänger Butch Reynolds wurde des Dopings überführt und gesperrt, Lee Evans lief seine Zeit in der Höhe von Mexiko. Johnsons Dominanz der 400 m-Strecke ist ohne Beispiel in der Leichtathletik. Auf Erkundigungen nach seinen letzen Trainingskontrollen zaudert er keine Sekunde: eine im Juni, was nicht unbedingt beruhigend klingt angesichts der Tatsache, dass er sich in den letzten Wochen vor der WM in den USA aufhielt.

Michael Johnson ficht das alles nicht an und hält ihn erst recht nicht ab, weitere hehre Ziele zu formulieren. In Sydney will er seine beiden Goldmedaillen verteidigen, und eine weiteren Weltrekord weist er nicht von der Hand: „Ich bin sicher, das man die 400 m in 42 Sekunden laufen kann, und vielleicht werde ich es tun.“ Ob er 2001 bei der nächsten WM im kanadischen Edmonton dabei ist, mag er noch nicht sagen. „Aber“, grinst er gut gelaunt die versammelte Presse an, „ihr schreibt bestimmt wieder interessante Dinge, die mich motivieren.“