Nach dem Krieg

Eine untouristische Reise durch Jugoslawien, von der Wojwodina in Richtung Kosovo. In der Banat-Metropole wachsen die Proteste gegen Milosevic: Pancevo soll sich der Welt anschließen. Was die Währung betrifft, hat die Welt längst Einzug gehalten  ■   Von Gerd Schumann

Irgendwo unten am nördlichen, dicht bewaldeten Ufer der Dunav (Donau) ließ Emir Kustorica eine paradiesische Idylle entstehen: Schaukelstuhl vor Holzhaus Marke „Villa Kunterbunt“ an brüchigem Holzsteg, ein liebenswert gebliebenes Jugoslawien en miniature, „wilder Osten“ mit anarchischen Zügen, in dem Öl und Diesel auf Teufel komm raus geschmuggelt werden, altertümliche Computer inklusive der größten Mikrochips der Welt und vorsintflutliche Waschmaschinen unter Ach und Weh im Fluss versinken und jedes Schlitz-„Ohr“ seine ebensolche Konkurrenz über dasselbe haut. Kustoricas jugoslawophile „Katze-Kater“-Komödie zeigt locker und trotzig eine hier in Jahrhunderten gewachsene Lebenseinstellung, die besagt: Es wird schon weitergehen.

Wilder Osten mit anarchischen Zügen

Damals während der Dreharbeiten fuhren noch Schiffe auf der Dunav, doch das war vor den Luftschlägen, und die bunten Filmbilder verschwinden, als ich die Augen wieder öffne. Wir überqueren die Dunav-Brücke bei Cartonovci, wo die Wojwodina endet und Serbien anfängt, eine Brücke von 61, die während des 78-Tage-Kriegs der Nato gegen Jugoslawien bombardiert wurden. Wenige Dutzend Kilometer weiter nördlich in Novi Sad folgten im April hunderte Menschen dem Beispiel eines Belgrader Architekten, der sich des Nachts als „lebender Schutzwall“ auf sein Bauwerk begab. Jetzt reißt die Brücke nach einem Drittel ab, und mein Blick fällt über den wohl fünfzig Meter breiten und etliche Meter tiefen Abgrund auf die gegenüberliegende Seite. „Pizzeria Bulevard“ hat igendein Witzbold in grüner Schrift an die Betonquader geschrieben, bevor die Raketen abgeschossen wurden, die die große, von Tollkühnheit und Überlebenswillen erzählende Manifestation auf der Brücke zerstörten und Autos und Menschen in den Fluss stürzen ließen.

Jetzt baden unten die Kinder, lachen, juchzen, kreischen, freuen sich, derweil auf der geknickten Brücke die Sonne kahlen Beton erhitzt. In Novi Sad weiß niemand genau, wie viele Menschen getötet wurden. Von offizieller Seite werden Zahlen immer noch geheimgehalten, doch ist zu hören, dass die Bäume der Wojwodina-Hauptstadt nicht ausreichten, um die Todesanzeigen nach alter Sitte öffentlich auszuhängen. Wohngebiete wurden beschossen, Heizkraftwerke außer Betrieb gesetzt und die größte Ölraffinerie.

Die Menschen überqueren nun den Fluss wie zu Urururgroßelterns Zeiten auf Booten. Ansonsten bewegt sich nichts auf dem Wasser. Trümmer und Schutt der zerstörten Brücken müssten zur Schiffbarmachung erst geborgen werden. Das kann dauern.

Srdjan Mikovic, der 38jährige Bürgermeister Pancevos, erzählt lakonisch, dass es die Natur war, die am 4. April eine ökologische Katastrophe verhinderte, als zwei „Tomahawk“-Geschosse in die Chemieanlagen einschlugen und dicke schwarze Rauchwolken in Richtung der Stadt zogen. Da wechselte die Windrichtung. Später trieben Fische bauchoben die Dunav hinunter. Wie stark die nicht weit entfernt gelegenen Anrainerstaaten Rumänien, Bulgarien und Ungarn vom Gift getroffen wurden, ist zwar bis jetzt noch nicht bekannt, doch wird bereits über Regressansprüche gegen Jugoslawien gemunkelt. Pancevos Bürgermeister schüttelt ob der Paradoxie des Vorgangs eher ratlos den Kopf.

In Opposition zur Zentralregierung

Der dynamische wie selbstbewusste Mikovic regiert als von der Opposition gewählter Parteiloser die 140.000 Menschen von Pancevo und Umgebung und zeigt sich äußerst informiert und kompetent auch in Sachen chemischer Fachtermini, benennt exakt die Zerstörungen und welche Gifte in deren Folge freigesetzt wurden. Der Grad der Vergiftung sei bisher nicht festgestellt worden. An zwei Messstellen Pancevos seien bis zu 10.600fach übersteigerte Werte toxischer Stoffe festgestellt worden. Der Bürgermeister klagt die kriegsführenden Länder Westeuropas an: „Viele Leute dort wussten ganz genau um die Gefährlichkeit der Produktion.“ Auch klingt aus jedem seiner Worte der – unüberbrückbare? – Gegensatz zur Belgrader Zentralregierung durch: Es fehle völlig an einer dringend notwendigen Zusammenarbeit gegen die ökologische Katastrophe. In der Banat-Metropole wachsen nach dem Krieg die Proteste gegen die Miloševic-Regierung unter der Losung: „Pancevo soll sich der Welt anschließen.“

Von der Währung her hat die Welt längst Einzug gehalten in Jugoslawien. Nicht nur in seinen übrig gebliebenen Teilen Montenegro und Serbien, auch in Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Makedonien wurde die Deutsche Mark zur völlig (un)heimlichen Leitwährung und die Länder weitgehend zum deutschen Hinterhof. Bei der Anreise Richtung Jugoslawien durch Tschechien, die Slowakei und Ungarn fiel mir zudem auf, dass viele Reisende deutsch zahlten und sprachen: Mit Schrecken und Scham stellte ich fest, dass ich die Kolonisierung des Balkans fast nicht einmal bemerkt hätte, ein auch individuell schleichender Vorgang offenbar.

Auch in Belgrads Zentrum auf der „Terazije“ kann in „DEM“ gezahlt werden, und natürlich wird nicht nach dem offiziellen Kurs 6:1 getauscht: Der Schwarzmarkt gibt zwölf Dinar für eine Mark her. Immer noch geht Deutschmark über alles und bleibt begehrt wie zu Zeiten der schlimmsten Inflation 1995, als Taxifahrer die aufgemalte Nullen-Reihe hinter dem Taxameter während einer Fahrt erweiterten und von der „starken Mark“ redeten wie die Alten bei uns angesichts des bösen Euro. Allerdings regiert trotz alledem noch immer nicht das fremde Geld die kleine Belgrader Welt.

Um Jahrzehnte auf ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von 900 Dollar zurückgeworfen, leben aus der Geschichte gespeiste Alpträume wieder auf, von 1941, als deutsche und italienische Truppen in Kosovo einmarschierten und von der jubelnden albanischen Bevölkerung begrüßt wurden, um drei Jahre später Hals über Kopf Jugoslawien zu räumen und 1,7 Millionen Tote, serbische, jüdische und Roma vor allem, nebst verbrannter Erde zu hinterlassen. Die Seiten 28 bis 31 des Ausstellungskatalogs „Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944“ zeigen Fotos von den Erhängungen am 22. 4. 1941 in Pancevo, die Seiten 54 und 55 dokumentieren die Massaker vom 19., 20. und 21. Oktober in Kragujevac, dem auf Befehl des Wehrmachtsgenerals Böhme zwischen 4.000 und 7.000 Menschen zum Opfer fielen. Seltsam nur, dass gerade in diese historisch schwer misshandelten Städte die Vergangenheit wieder einzog, als große Industrieanlagen in Gestalt des „Zastava“-Autowerks und der Düngemittelfabrik in Schutt und Asche gelegt wurden. Die Kragujevac-Gedenkstätte in Sumarica wurde durch die Druckwelle schwer in Mitleidenschaft gezogen, so dass die Menschen in Anspielung an eine 1941 umgebrachte Schulklasse sagen: „Unsere Kinder wurden zum zweiten Mal umgebracht.“

Psychisch angeschlagen ist in Jugoslawien so ziemlich jede und jeder und seit dem 8. April um 0.45 Uhr nachts auch der Dermatologe Radir Stepanovic aus der Kleinstadt Cuprija nicht weit von Kragujevac auf halber Strecke zwischen Belgrad und Kosovo. Als die Bomben sein gerade fertiggebautes Haus trafen, saßen er, seine Frau und die drei Kinder im Keller. Über der Erde gingen alle materiellen Werte zu Bruch, unter der Erde die Psyche der 15jährigen Tochter: „Die fällt in Ohnmacht eine halbe Stunde lang, schreit ,Flugzeuge, Flugzeuge‘. Wir sind alle geistige Invaliden geworden. Krieg ist Schrecken.“ Seine Frau sei an Kopf und Händen verbrannt, die Schwiegermutter habe eine Kopfverletzung. „Wir flogen durch den Keller.“ Glück „und der liebe Gott“ hätten sie gerettet, meint der Arzt am Rand der Verzweiflung. Er zeigt in Richtung Süden. Cirka zweieinhalb Kilometer entfernt liege eine alte Kaserne der jugoslawischen Volksarmee, doch die sei schon seit zehn Jahren geräumt.

In Cuprija und an anderen bombardierten Orten gelangt der deutsche Militärexperte Elmar Schmähling, ehemaliger Bundeswehr-Admiral und MAD-Chef, der später zur Friedensbewegung stieß, zu einer bemerkenswerten Einschätzung: „Es ist eigentlich schwer nachzuvollziehen, warum zum Beispiel in einer relativ kleinen Stadt, in der es überhaupt keine militärischen Einrichtungen gibt, eine größere Zahl von Wohngebäuden, auch kleinen Wohngebäuden, angegriffen worden sind. Dies kann nur damit zusammenhängen, dass Terror erzeugt werden sollte, also Wut, Angst, Verzweiflung der Bevölkerung mit der Folge einer politischen Destabilisierung.“ Entgegen aller Bekundungen der Nato seien viele eindeutig zivile Einrichtungen getroffen worden, meint der Ex-Bundeswehroffizier, der sich in Vorbereitung eines „europäischen Tribunals über den Nato-Krieg“ in Jugoslawien umschaute.

Die vollkommen erhaltene Leiche des Zaren

Schließlich das Kloster Ravanica am Abend, 1379 unter Zar Lazar errichtet. Eine Fremdenführerin erzählt von der „Schlacht auf dem Amselfeld“ (Kosovo Polje) 1389. Vorher sei „Serbien einer der modernsten Staaten in Europa“ gewesen, danach „500 Jahre unter den Türken“.

Fast ganz in Schwarz – nur Augen, Nase und Mund sind unbedeckt – präsentiert die namenlose Oberin das Prunkstück ihrer Kapelle, die „vollkommen erhaltene“ Leiche des Zaren, der in jener für die serbische Geschichte bis heute traumatischen Kosovo-Niederlage gefallen sei. Er sei „normal in der Erde“ beigesetzt worden, berichtet nun die Leiterin des Klosters mit einer dem religiösen Ort angemessen scheinenden Stimme, und zwei Jahre später habe sich anlässlich einer geplanten Überführung von Priština zurück nach Ravanica herausgestellt, dass der Leichnam völlig unverwest gewesen sei, woraufhin Lazar von der serbischen Kirche zum Heiligen erklärt und zurücküberführt wurde.

Von Zerstörung und Vertreibung geprägte Zeiten sorgten für wechselnde Aufenthaltsorte des Verehrten: 1670 Ungarn, später Novi Sad, ab dessen Besetzung durch die kroatische Ustasha 1942 dann Belgrad. Der 600. Jahrestag der Kosovo-Schlacht schließlich brachte die Leiche mit viel Pomp und Protz zurück nach Ravanica – Präsident Miloševic beschwor just vor Millionen das Kosovo als „Wiege des Serbentums“, nicht ahnend, dass zehn Jahre später ebendort eine weitere schicksalhafte Niederlage folgen würde. Die Leiche des toten Zaren lockt seitdem auf Wunder Hoffende an.

Nun liegt Lazar da, immer noch völlig unverwest, der Sarg von schwerem rotem Samt bedeckt, bestickt mit Ornamenten aus Gold und Brokat. Die Oberin sagt, dass „zum Schutz des Leichnams Kopf und Rumpf durch Kleidung verhüllt“ worden seien. Nur die Hände seien frei. Zu sehen sind sie freilich nicht.