Ich war Emil Zátopek

■ Der Alsterlauf im Selbstversuch: Hechelnd, pustend und keuchend zehn ewig lange Kilometer durch Hamburg

Gestern früh, fünfzehn Minuten nach neun: Das Klingeln des Telefons löste eine Adrenalin-Explosion aus – verschlafen! Wie peinlich. Im Sprint-Tempo wurden Schuhe, Hose und T-Shirt vorgesucht – für etwas Nahrhaftes blieb keine Zeit. 45 Minuten später stand ich etwas verwirrt, aber immerhin pünktlich dort, wo ich noch wenige Stunden zuvor mein letztes Bier mit unzähligen Zehn-Pfennig-Stücken erstritten hatte: am Jungfernstieg, dem Start des 10. Alsterlaufes.

Schnell noch die Laufnummer abgeholt und den „Champion-Chip“, der meine Ausdauerleistung auf die Hundertstel erfassen sollte, am Schnürsenkel festgetüddelt. Die Vorstart-Erregung stieg. Auch neben, vor und hinter mir bei rund zweitausend weiteren Frühaufstehern, die auf die Erlösung warteten. Da harrten Plattfüßige in Speziallatschen mit Dämpfungssystem, Alte und Junge, Männer mit Bäuchen und Frauen mit Kindern – alle ein gemeinsames Ziel vor Augen. Das befand sich zehn Kilometer weiter – rund um Außen- und Binnenalster an Benetton, Banken und Botschaften vorbei – am Rathausmarkt.

Und los gings. Zunächst problemlos, dann einträchtig hechelnd, pustend und keuchend – jeder wie er wollte. Die Lungen pfiffen und die Menge zog sich in wenigen Minuten auseinander wie ein Kaugummi. Ein weites Feld. Ich lief irgendwo als Verbindungsstück. Mein gestecktes Ziel von unter vierzig Minuten wurde bei Kilometer vier schnell noch mal korrigiert und um fünf Minuten aufgestockt. Dem gefürchteten „Mann mit dem Hammer“, den man immer dann treffen soll, wenn die eigene Ausdauer zur Neige geht, wollte ich aber nicht begegnen. Also: weiter vorwärtsstolpern und vorwärtsdenken.

Nach einer halben Stunde: überall puterrote Köpfe, versteinerte Gesichter und übersäuerte Waden. Der Sieger hatte schon längst die Ziellinie überquert. Die Vortäuschung größerer Leistungsfähigkeit durch noch buntere Outfits war hier und da bereits aufgeflogen. Andere erreichten munter, wiederum andere lethargisch den Ballindamm, die Zielgerade, auf der – so wie ich es noch mitbekam – mehrere Millionen Zuschauer gröhlten, johlten und rasselten. Angesichts eines 82. Platzes in 44 Minuten und 21 Sekunden wurde mir allerdings eines klar: Wir alle waren heute Emil Zátopek. Der tschechische Wunderläufer hatte nicht umsonst einmal gesagt: „Der Vogel fliegt, der Fisch schwimmt, der Mensch läuft.“ Oliver Lück

Sieger: Zbigniew Murawski/Polen (29:36 Minuten); Siegerin: Liliana Ribeiro Hünerberg/TSG Bergedorf (34:21 Min.)