An der Grenze von Innen und Außen

■ Zerrissenheit in Spitzenschuhen: La La La Human Steps beim Sommertheater-Festival

Ein Lichtkreis auf der leeren schwarzen Bühne, darin eine Tänzerin. Allein, im schwarz-wollenen, fast durchsichtigen Trikot, lang auf Spitzenschuhen. Geschmeidig der Körper, der in rasantem Tempo auf- und zusammengeklappt wird, gebeugt und gedreht, als sollten alle Funktionen getestet werden. Aber störrisch das Wesen. Es zappelt und gestikuliert, schüttelt wild den Kopf und wehrt sich, als wolle es hinaus aus diesem Körper, als sprenge die Energie einer Innenwelt die Grenzen der Physis.

Édouard Lock, der Choreograph der in Montréal ansässigen Truppe La La La Human Steps, hat sich schon immer für das Ausreizen von Grenzen interessiert. Ob es solche des Körpers waren, die die Tänzer in den 80er Jahren mit ihren extremen Sprüngen, Fällen und exzessiven Läufen zu überwinden suchten, oder die Grenze zwischen Publikum und Akteuren, die Lock auflös-te, indem er den Puls eines Zuschauers über Lautsprecher verstärken und die Tänzer zu diesem lebenden Beat tanzen ließ.

In seinem neuesten Stück Salt, das im Oktober 1998 in Japan Premiere hatte und am Wochenende beim Internationalen Sommertheater-Festival auf Kampnagel zu sehen war, geht es um die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt, dessen Nahtstelle der Körper ist. Und Verzweiflung entsteht, wenn die Grenze nicht durchbrochen werden kann.

Neun Tänzerinnen und Tänzer zeigen das in Solos, Pas de deux, Formationen zu dritt oder zu fünft. Wenn ein Tänzer mit einer Tänzerin einen Pas de deux tanzt, so ist es, als versuche er sie aus ihrer Verzweiflung zu holen, ihr Halt zu geben. Sein Part ist der des Unterstützenden. Insofern geht es in Salt vielleicht auch um Liebesbeziehungen. Salt, der Rest Salz, der bleibt, wenn das Meer sich zurückzieht. Oder die Rückstände, die bleiben, wenn Wünsche sich erfüllt haben.

Die Heftigkeit der Bewegungen und die Zerrissenheit, die die Ges-ten der Tänzerinnen und Tänzer ausdrücken, stehen in krassem Widerspruch zum klassischen Spitzentanz und der konventionellen Form des Pas de deux. So entsteht eine eigenartige Spannung, die verstärkt wird durch das Atmen und Keuchen der Akteure. Der Einsatz von Geräusch und Musik – wie der Verzicht darauf – ist gelungen, denn das ermöglicht eine Konzentration auf den Tanz. Entweder man hört einen Geräuschteppich aus leisem, fernen Stimmengewirr und Tassengeklapper oder Live-Musik von Cello, Piano und E-Gitarre.

Oder man hört nichts. Wie in dem Moment, als eine Tänzerin im Zentrum der Bühne und des Lichtkegels steht, mit ihren rosa Spitzenschuhen eine klassische 5. Position bildet und man in dieser absoluten Stille und der Leere der Bühne den menschlichen Körper als geometrische Schönheit begreifen kann. Annette Kaiser