: Grell, bizarr, wunderbar
■ Mit dem „Orchestre Révolutionaire et Romantique“ unter dem herausragenden Dirigenten John Eliot Gardiner feierte das Musikfest einen glänzenden Auftakt. Schumann und Beethovens „Eroica“ bildeten das viel umjubelte Programm
Fast täglich ruft er seinen Schäfer an, der über 800 Schafe betreut: John Eliot Gardiner ist leidenschaftlicher Landwirt. Es bleibt das Lebensrätsel dieses Dirigenten, wie er das alles hinkriegt, denn nichts wird bei ihm auf die Schnelle gemacht. Noch immer misstraut er jeder gedruckten Ausgabe und kümmert sich um die originalen Handschriften. Dass für interpretatorische Entscheidungen immer auch biographische Umstände der Komponisten mit herangezogen werden müssen, versteht sich von selbst. Auf diesem Hintergrund kann ein „normales“ sinfonisches Konzert mit der vierten Sinfonie von Robert Schumann und der „Eroica“ von Ludwig van Beethoven wieder einmal zum Ereignis werden, besonders wenn das „Orchestre Révolutionaire et Romantique“ der Klangkörper ist.
All das ergab eine glanzvolle Eröffnung des diesjährigen Musikfestes im großen Saal der Glocke, an deren Ende nicht nur dem Dirigenten, sondern auch den MusikerInnen die Schweißperlen herunterliefen. Anton Schindler schreibt in seiner Beethovenbiographie: „Wenn ein Werk von Beehoven zur Aufführung gekommen, so war seine erste Frage: 'Wie waren die Tempi?' Alles andere schien ihm von secondärer Art zu sein“. Wird auf dem schwierigen Verhältnis von „Tempo und Charakter“ musiziert – so der Titel des folgenschweren 1943 erschienenen Aufsatzes von Rudolf Kolisch über die Interpretation der Musik Beethovens – so ist noch jede Aufführung der Beethovenschen Eroica in keiner Weise einfallsloses Programm, sondern eine immer neue Herausforderung.
Die inhaltliche Wucht des Werkes weist Beethoven als leidenschaftlichen Republikaner aus. Und genau das will und kann Gardiner dem Publikum wieder vermitteln. Es gelang grandios an diesem Abend: die treibende Unerbittlichkeit der Tempi, der oft abrupte Wechsel zwischen kammermusikalischer Stellen und wuchtiger, ausladender Sinfonik, die ungemein aufregenden Dispositionen in den Crescendi und als schönste Perle in den Perlen: der langsame Satz, der Marcia funebre. Dessen Klanggebung und die rhythmische Strenge zeigten ein Stück der Trauer, dessen Gehalt wohl nie erschöpft werden kann. Unnachahmlich an diesem Abend das hoffnungsvolle Licht im Dur-Mittelteil, wieder verständlich ein zeitgenössisches Urteil nach der Uraufführung: „grell und bizarr“ sei diese Musik. Bei Gardiner ist sie das noch immer.
Auch Robert Schumann war hochempfindlich gegenüber aufgesetzten Eigenmächtigkeiten der InterpretInnen. Gerade seine Virtuosenfrau, die Pianistin Clara Wieck, musste er immer wieder erinnern, dass einzig und allein die „Originalhandschrift die Autorität ist“. „Immer aber ist's besser, der Virtuos gibt das Kunstwerk, nicht sich“, schreibt er an Clara. Genau das gelingt Gardiner außerordentlich. Er, längst in unserem Betrieb zum „Stardirigenten“ avanciert – was ist das? – versteht es immer wieder, sich in der musikalischen Arbeit selbst zwar nicht in den Hintergrund, aber doch vollkommen in den Dienst des Werkes zu stellen. Schumanns vierte Sinfonie, an deren ursprünglicher Instrumentation Clara und Franz Liszt herummeckerten, bis Schumann sie glättete, erklang nun in der ersten, fast ruppig-archaischen Fassung.
Eigentlich ein Satz das Ganze, in einem Atem, mit großer vibratoloser Eindringlichkeit – wobei besonders der „Nebelanfang“ des fulminanten vierten Satzes mitriss – von Gardiner und seinem Orchester gestaltet. Einiges geriet nicht ganz so perfekt wie bei Beethoven, aber bei einem Konzert von Gardiner muss man immer auch mit einer fast ungerechten Übererwartung kämpfen.
Übrigens ein hohes Lob an die Organisation der Fernsehaufnahmen: während in der Vergangenheit riesige Kameras über Publikum und Orchester penetrant herumschwenkten, gab es diesmal – wie ein griechischer Trauerchor schwarz verhüllt – nur vier scheinbar unbewegliche Kameras auf der Bühne. Es geht also auch so, und das Ergebnis, habe ich mir sagen lassen, war hervorragend und viel mehr der Musik entsprechend als so manch andere Orchesterübertragung. Ute Schalz-Laurenze
Das nächste Konzert des Musikfestes: Heute Abend spielt die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter Thomas Hengelbrock Beethovens „Egmont“, (20 Uhr, Glocke)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen