„Ich bin ein ganz normaler Tag“

■ Die „Hard Pop Days“ am Unisee: Ein open-air-Festival voller Widersprüche, bei dem der Lipton Eistee in Strömen floss. Und am Ende brüllte Grönemeyer

Während die Blondie-Wiedergeburt der „Cardigans“ ihr letztes Lied freundlich und federleicht der unverhofften Sommer-Wiedergeburt entgegenträllerte, formulierte Bildungssenator Willy Lemke seinen Eindruck von den Unterhaltungsgepflogenheiten seiner Neuen Bremer Jugendmannschaft etwa so: „Finde ich toll. Vor allem sehe ich hier keine Drogen“ – und enteilte zu Tiger Michalczewski – „ein schwerer Kampf“ – zum Zwecke des Daumendrückens. Und in der Tat fehlten die open-air-üblichen Berge leerer Schnell-noch-Zudröhn-Bierdosen an der Tageskasse. Und auf dem grasgrün strotzenden Gras lümmelten keine schäbigen 5-Liter-Kanister mit rotem Landwein. Stattdessen erstrahlten orangefarbene Tetrapacks mit Lipton Eistee.

Was ist das für ein Festival, bei dem sich als unauslöschliche Schlüsselerinnerung ausgerechnet Lipton Eistee ins Gedächtnis einbrennt? Ach, eigentlich ein sehr sympathisches. Noch nie haben die Toiletten bis in den Abend hinein so proper nach Gummibärchen – Geschmacksrichtung Brombeere – geduftet. Noch nie gab es davor so kurze und so geordnete Warteschlangen, sogar mit jenem 5-Meter-Diskretheitsabstand, der den geübten Sparkassenkunden vor allen anderen Geschöpfen dieses Planeten auszeichnet. Um punkt 11.40 Uhr – ganz erstaunlich viele Menschen haben da schon den Weg aus Betten und Träumen gefunden – gaben „Die Sterne“ das Motto aus: „Ich bin ein ganz normaler Tag, ich geh nicht vor noch geh ich nach. Ich bin so wie ein leeres Blatt.“ Ja, aus der Erwartungslosigkeit entspringt das Glück. Und aus Ironie. Und aus Langeweile. Obwohl: Hatte Christoph Leich an diesem Tag nicht fast so etwas wie eine Stimme, während er doch auf CD eher nuschelte? War wahrscheinlich viel zu gut ausgeschlafen. Und Sterne sollten schließlich niemals nie schlafen, sollen doch strahlen. Die dezenten elektronischen Spielereien der letzten CD kamen übrigens auch live gut.

Bei den Sternen lautet eine Zwischenansage zum Beispiel so: „Da nun das Verhältnis zwischen Sänger und Mikroständer geklärt scheint, können wir das nächste Lied anstimmen.“ Bei H-BlockX eher so: „Wo ist Bremen? Bremen wo seid ihr?“ Nach zwanzigfacher Wiederholung dieser Satzfolge fallen dem Sänger überraschenderweise doch noch neue Publikumsstimulanzien ein. Sie lauten so: „Das kann auch lauter gehn.“ Oder so: „Seid ihr gut drauf?“, alles in Dieter-Thomas-Heck-Gewehrsalvenrhythmus. Neurotisch das Bedürfnis anzupowern gegen den steten Doch-bloß-brave-deutsche-Jungs-Vorwurf. Irgendwie tragisch: Der Crossover-Sound von H-BlockX wird immer variantenreicher und beim neuen Filmsoundtrack richtig dirty. Die Stimme ist großartig, aber irgendeine Klitzekleinigkeit fehlt ihr, ein Drang, der sich auch nicht herbeireden lässt. Ein paar Gesangsstunden, und H-BlockX wäre vielleicht die beste HipHop-Band der Welt.

Die grandioseste Stimme des Festivals hatte jedenfalls Cultured Pearls: zwar aus Hannover, aber man merkt's nicht. Wirkt irgendwie wie eine Grunge-Band, die aus Versehen an einen altmodischen Rockgitarristen geraten ist und an eine Soulsängerin, die gerade Trauer trägt. Ein (nicht immer hörbares) Percussion neben dem Schlagzeug, signalisiert: Achtung, Komplexität. Hauptsächlich aber ist Cultured Pearls der unendliche, unendlich kräftige Atem einer zarten Sängerin. Zwischenansagen kann sie nur noch röcheln.

„The King“ erwies sich als perfekter Elvisklon, sängerisch, als Elvisparodie, schauspielerisch. Lustig, dass da jemand einem cool-charmanten Lebenskonzept mit dauerhochgestellten Hemdkragen nacheifert, an dessem Ende erwiesenermaßen nur Fettsucht und Depression stehen können. Leichenschändung aber ist die King-Version von Nirvanas „Smells like teen spirit“, allerdings eine schöne. Dass nette Lieder von dreckigen Bands zerfetzt werden ist alt, von der Eurythmic-Zertrümmerung durch Violent Femmes bis zur Härtung von „Billy Jean“ durch die Bates. Neu dagegen, harte Musik aus smarten Mund. „Born to loose“, gecovert von den Backstreet Boys, das wär's. Und die Vorstellung eines von Schrotkörnern durchlöcherten Sängers mit Schmalzlocke und fünf Kindern (The King ist im Besitz von beidem) hat auch was.

Während Xavier Naidoos Auftritt fanden die ersten größeren Abwanderungsbewegungen statt. Obwohl er mit tollen Backgroundsängerinnen seine mittelalterlichen Minnegesänge und christlichen Lebenshilfen feinstens ausziselierte. Seinen pathetischen Freiheitssong verzierte er gar mit der ironischen Note, man lebe schließlich nicht in Amerika. Und die Sonne war so nett, just in diesem Moment unterzugehen und mit dem Unisee ein bisschen Mittelmeer zu spielen. Auf die Abwesenheit von Farbe und anderen Bühnenmätzchen bei Naidoo folgte die große Equipmentschlacht. Grüne Laserstrahlen kugelten durch die Nacht. Doch grüne Laserstrahlen sehen nicht gut aus, wenn sie über m-e-i-n-e Bratwurst hüpfen. Auf Pommes mit Ketchuphäufchen auch nicht. Man denke: Rot und Grün.

Ein instrumentales Endzeitgedröhn konnte eine Zeitlang darüber hinwegtäuschen, dass der, der da mit Ankunft drohte, Herbert Grönemeyer war. Doch spätestens als auf drei fulminanten Videoleinwänden die Wörter „Mann“, „schießen“, „brüllen“ hektisch dauerblinkten, war die Anwesenheit von Deutschlands beliebtesten Feministen nicht zu ignorieren. Nach zwei Jahrzehnten kompliziertester gender-Debatte also ist die Menschheit bei diesen drei Schlagworten angelangt. Wenn auch noch „uurghs“ und „wuuusch“ dazugeblendet wären, hielte man Grönemeyer für eine Comicfigur. Aus den Sigurd-Ritterepen oder so.

Natürlich „brüllt“ Grönemeyer selber am meisten. Er folgt einer Theorie, die besagt, dass die Qualität von Musik steigt mit der Zahl geplatzter Halsäderchen. Diese Theorie ist vollkommen richtig, nämlich bei Metal und Core. Statistische Erhebungen zeigen jedoch, dass Menschen mit Namen Herbert niemals Metal machen. Natürlich ist diese Bombast- und Verausgabungsästhetik alter Männer ganz nett, irgendwie. Allmählich aber dürfte er endlich mit seinem U-Boot absaufen. Ach so, war ja in einer anderen, in einer Schein-Welt. bk

Impressionen vom Festivalgelände, gesammelt von unserer Fotografin Laura Marina