Sonnenfinsternis bei OBI

Versuchte Geburtstagsfeier im Baumarkt    ■ Von Gabriele Goettle

Das Problem war folgendes: Wohin führt man einen sowohl armen als auch überaus kranken Mann zu seinem Geburtstag aus, wenn a) die eigenen Mittel beschränkt sind und b) auch die Kräfte dieses Mannes derart beschränkt sind, dass er weder langes Gehen und Stehen verträgt noch auf Dampferfahrt, Restaurant oder Kino große Lust verspürt, und c) dieser Geburtstag auf den Tag der Sonnenfinsternis fällt? Nach langem Kopfzerbrechen fiel mir ein merkwürdiger Ort ein. Auf den ersten Blick wirkt die Idee etwas abwegig, den Tag in einem Baumarkt zu verbringen. Aber unter den gegebenen Umständen spricht vieles dafür, besonders das elektrische Einkaufwägelchen, das der „größte Baumarkt Deutschlands“ für seine gebrechlichen Kunden bereithält, damit auch sie mühelos in der Warenwelt herumfahren und einkaufen können. Warum sollte man die eigennützigen Angebote der Großunternehmer nicht freudig missbrauchen? Zudem gibt es eine blitzsaubere und mit Regenwasser spülende Kundentoilette, ein Bistro und einen Parkplatz, der in seinen Ausmaßen wirkt, als müsse er der Belegschaft einer großen Fabrik dienen und nicht der Laufkundschaft eines Baumarktes. Er ist wie geschaffen für die Betrachtung einer Sonnenfinsternis.

Wir holen Frédéric, den Kirchenmaler, im Park bei der Blindenanstalt ab. Er trägt blaue, glänzende Turnhosen und ein strahlend weißes Unterhemd mit kurzen Ärmeln. Blass und guter Laune erklimmt er den Autositz, legt sich geschickt den Sicherheitsgurt um – was der Antiquar nach zahllosen Fahrten immer noch nicht kann –, gibt unserem Hund einen Klaps auf die Schädeldecke und sagt: „58 bin ich jetzt schon geworden und habe sogar eine Geburtstagsfinsternis. Habt ihr denn solche Brillen überhaupt?“ Wir haben eine Brille. Schon vor Wochen hatte ich für Frédérics Geburtstag beim Kosmos-Verlag ein Sonnenfinsternis-Set bestellt. In einer wieder verschließbaren Plastiktüte befindet sich neben einem belehrenden Faltplan samt Schnittbogen zum Nachstellen der Ereignisse auch eine vorschriftsmäßige Brille. Zum Glück. In ganz Deutschland sind sie seit Tagen vergriffen. Der Kapitalismus gibt wirklich viele Rätsel auf. Während man in England sogar Brillen für Hunde und Katzen hat, herrscht hier totaler Mangel. In den Schaufenstern der Drogerien und Optiker hängen handgeschriebene Zettel, um die ärgerliche Kundschaft gleich draußen abzuweisen. So gesehen ist eine Brille für drei Personen geradezu ein Luxus, der uns darüber hinaus bewahrt vor späteren Sehstörungen oder gar Netzhautablösungen. Ich reiche dem Kirchenmaler das Verfinsterungsset und eröffne ihm, was wir für Pläne haben. Zu unserer großen Erleichterung wirkt er glaubhaft begeistert, reibt sich die Hände bei der Vorstellung, im Elektroauto durch die Gartenabteilung zu fahren.

Der Baumarkt liegt an der Goerzallee, im Süden Berlins, am Rande einer großen, kahlen Fläche. Auf der gesamten Grundstücksgrenze, zur Goerzallee hin, flattern hauseigene Fahnen an hohen Masten. Die Schmalseite des Gebäudes ist, mit seinem umzäunten „Gartenparadies“ und einer gewächshausartig verglasten Fassade, der Straße zugekehrt, wirkt geradezu kultiviert im Vergleich zu den gewohnt monotonen Baumarktkonstruktionen. Die eher schlichte Schmalseite wird gesäumt vom halb fertig gestellten Parkplatz, auf dem erstaunlich wenig Fahrzeuge stehen an diesem späten Vormittag. Wir fahren auf das große Areal der noch unfertigen Parkplatzseite. Nach langer Hitze und Trockenheit ist die sandige Fläche steinhart. Nur wenige, sehr widerstandsfähige Pflanzen wie Disteln, Brennnesseln und Löwenzahn haben sich hier halten können. Und da überall seltsam geformte, ausgebleichte Wurzelteile und Steine herumfliegen, wirkt dieser Ort ausgestorben und wüstenhaft, der „größte Baumarkt“ klein und nebensächlich. Von hier aus ist ein weiter Teil des Himmels zu sehen, der sich übrigens kurz nach der Mittagsstunde ein wenig zu bewölken beginnt. Ganz besonders vor der Sonne schiebt es sich immer dichter zusammen. Zuerst kaum merkbar, kommt ein leichter, nur ab und zu stärker werdender Wind auf. Die Krähen, die hier in großen Schwärmen leben und abends auf den Bäumen am nahen Teltowkanal schlafen, kreisen unstet über den Platz, setzen sich, immer wieder hochflatternd, in den Zweigen nieder, fliegen wieder auf und kreisen erneut mit heiseren Verständigungsrufen so nah über dem Boden, dass ich mehrere Ringeltauben erkennen kann, die mit ihnen fliegen, was – so kommt mir vor – bestimmt ganz ungewöhnlich ist. Der Schwarm kreist nun jenseits des Platzes über einem weißen Gebäude, das immer weißer wird, wodurch sich der unangenehme Eindruck seiner Naziarchitektur noch verstärkt. Es ist das ehemalige Telefunkengebäude, später von den Amerikanern als Kaserne benutzt. Allmählich ist der ganze Schwarm auf den Dächern und den beiden stumpfen Türmen gelandet, wo er sich wie ein schwärzlicher Belag ausbreitet. Es ist seltsam, dass gewisse Orte ihre geschichtliche Wolke nicht verlieren, auch nicht durch Planierung und Überbauung. Diesem Ort hier sieht man es zwar kaum noch an, dass er auch mal anderes beherbergt hat als Stadtrandhäuser, Schrebergärten und Fabriken, aber dennoch scheint ein Schatten über all dem zu liegen. Was kein Wunder wäre. Unweit von hier liegt der ehemalige „Leibstandartenweg“, in dem noch die Restbestände der Siedlung der „SS-Leibstandarte Adolf Hitler“ betrachtet werden können. Hier wohnten SS-Führer mit ihren Familien „im Grünen“, vom Scharführer bis hinauf zum persönlichen Adjutanten Himmlers. Geplant war eine Ausweitung der Bebauung weiter in westlicher Richtung, es kam aber der Krieg dazwischen und die SS hatte nunmehr ihren Wohn- und Arbeitsplatz weitgehend im Ausland. Nur deshalb konnte „OBI“ an dieser Stelle überhaupt gebaut werden. Auch ein Konzentrationslager gab es, direkt nebenan, eine Außenstelle von Sachsenhausen, am Teltowkanal gelegen. Vor ein paar Wochen noch waren Reste davon zu erkennen. Doch dann fing man an zu bauen und nun verschwinden auch sie vollends. Die Zwangsarbeit dieser dort festgehaltenen Häftlinge bestand übrigens hauptsächlich in Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen. Getroffen wurden neben der Spinnstofffabrik und den Zeiss-Ikon-Werken auch eine ganze Reihe von SS-Siedlungshäusern. Nach dem Kriege wurde der Leibstandartenweg vorschriftsmäßig umbenannt, in Ortlerweg. Der Ortler ist ein gletscherbedeckter Berg in den Rätischen Alpen, fast 4.000 Meter hoch und war unter SS-Männern und Nazi-Bergsteigern mythisch verehrt.

Die Krähen erheben sich laut krächzend von den Telefunkentürmen respektive den McNair Barracks, kreisen ein wenig über dem Parkfriedhof, dann über dem Platz des 4. Juli, auf dem die Amerikaner ihre jährlichen großen Militärparaden zum amerikanischen Unabhängigkeitstag abhielten und auf dem jetzt Motorradfahrer üben, Rollschuhfahrer Hockey spielen, Flohmärkte ihre Tische aufschlagen. Der immer größer werdende Schwarm schwenkt in stetigem Kreisen wieder herüber, schwebt in deutlicher Erregung über dem Parkplatz und den angrenzenden Schrebergärten und Baumwipfeln, aus denen zunehmend jede Farbe zu schwinden scheint. Die Krähen bereiten sich auf die Nacht vor und machen sich fertig zum Schlafen. Mit 3.400 Stundenkilometern rast der Kernschatten dahin, vom Nordatlantik bis zum Golf von Bengalen, die letzte totale Sonnenfinsternis dieses, unseres Jahrhunderts. Hier, in Berlin, sind nur 88 Prozent der Verfinsterung zu sehen, so ähnlich wie 1954. Ich schlendere mit dem Hund zurück zum Auto. Elisabeth streift noch alleine herum, Frédéric sitzt bei weit geöffneter Schiebetür auf dem Treppchen und starrt durch die Brille zum Himmel. Er sieht aus wie das fremdartige Wesen, das er eigentlich ist. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages für einen ehemaligen Fremdenlegionär freiwillig den Geburtstag ausrichten würde. Frédéric lässt die Brille sinken, lächelt kindlich und fragt, auf den Hund deutend: „Du hast ja einen ganz falschen mitgebracht! Wo sind denn die vier roten Hunde, die Setter?“ Er lacht über den geglückten Scherz. Es handelt sich um eine Anspielung auf den Text von Virginia Woolf zur Sonnenfinsternis von 1927, in dem die vier roten Setter eine Rolle spielen. Diesen Text hatte ich, zusammen mit ein paar anderen Texten, fotokopiert und in der Suppenküche verteilt, ohne groß darauf zu hoffen, dass sich, außer dem Antiquar, jemand damit beschäftigen wird. Frédéric hält sich die Brille wieder vor die Augen und sucht den Himmel ab. Grauweiße Wolken und Wolkenfetzen ziehen schnell dahin und verdecken in kurzen Abständen die Sicht auf eine zu drei Viertel abgedeckte Sonne. Er reicht mir die Brille, weil er nichts sieht, ich aber habe Glück und auch Elisabeth sieht, was zu sehen ist, nur Frédéric behauptet, es sei schwarz vor Augen, er sehe nichts. Doch plötzlich sieht er es doch, hatte nur zur falschen Stelle hinaufgeblickt: „Da! Ah! Schrecklich!“ Elisabeth nimmt die Brille, schaut ein Weilchen, gibt sie zurück und sagt: „Wenn der Mond jetzt in dieser Position stehen bleiben würde, so dass wir nie mehr eine richtige Sonne hätten, sondern immer nur diese schmale Sonnensichel dort oben, was wäre dann? Wir wären alle gleichermaßen aufgeschmissen, du, du und ich und auch der verstaubte Löwenzahn, auf dessen Blatt ich stehe.“ Ein schwerer roter Lastzug mit Anhänger biegt in ziemlicher Geschwindigkeit um die Kurve, wirbelt Staub auf, rollt langsamer und bleibt unmittelbar neben uns stehen. Mit der Rückseite zu den Ereignissen. Der Fahrer öffnet das Fenster, verstellt seinen Außenspiegel und blickt prüfend hinein. Fortan sieht man ihn, Stullen essend und im Sitz zurückgelehnt, den Himmel im Spiegel beobachten. Frédéric schaut ebenfalls und ruft jedesmal: „Jetzt!“, wenn die Wolken den Blick freigeben. Er fröstelt. Es ist deutlich kühler geworden und auch der Wind hat an Stärke zugenommen. „Gestern hab ich mich erinnert, plötzlich, abends, wie ich gelesen hab“, sagt Frédéric auf die aschfahle Baumreihe blickend. „Ich hab so was schon mal erlebt, salemals als Junge, wo ich bei den Schwestern im Waisenhaus war. Kohlschwarz war es da draußen, so kohlschwarz wie in der Nacht, und die Bäume wurden ausgerissen vom Sturm. Wir haben gedacht, die Welt geht unter. Große alte Bäume, die haben hinterher einfach dagelegen im Park, die Wurzeln nach oben. Aber ob wir da geguckt haben, mit rußigen Glasscheiben, das weiß ich gar nicht mehr. Ich glaube, sie haben uns nicht mal rausgelassen, ich kann mich nicht mehr recht erinnern. Aber eins weiß ich noch genau, im Winter, der drauf gefolgt ist, da war es so unheimlich kalt, dass wir es nie warm hatten, nicht in den Zimmern, nicht im Bett. Wir mussten unten im Keller die Kohlen auseinanderhacken mit Beilen, so zusammengefroren waren die.“

Es herrscht eine merkwürdige Stille. Die Krähen verschwanden kurz vor dem Höhepunkt der Verdunkelung und sind auch bei zunehmender Rückkehr des Sonnenlichtes nicht zu sehen, nicht zu hören. Aber man sieht auch Wesen, die gleichgültig bleiben gegenüber den Ereignissen am Himmel, Leute, die ihre Einkaufswagen, ohne aufzublicken, über den Parkplatz schieben. Ein älterer Mann hingegen hält, während er seine Einkäufe im Kofferraum verstaut, alle paar Minuten inne, um seine Schutzbrille vor die Augen zu führen, und zwar so, dass die Bügel aus Pappe steil nach vorne stehen. Der Himmel, der nun rasch frei wird, während die Wolken nach Osten hin verschwinden, hat eine seltsame Farbe, die etwas Beängstigendes hat. Bis zur Goerzallee ist er von einem dunklen Ultramarin, während über der weißen Kaserne sich ein milchiges Hellblau übergangslos anzuschließen scheint. Aber auch dieses Phänomen verflüchtigt sich, alles vermischt sich wieder, es wird warm, geradezu heiß. Der Kundenparkplatz füllt sich, leichtfertig gehen die ersten Krähen spazieren. Die Welt ging nicht unter, kein großer Schreckenskönig kam vom Himmel und ergriff die Macht. Und auch die russische Raumsonde Mir scheint nicht auf die Erde gestürzt zu sein.

Wir begeben uns frohgemut zum künstlerisch gestalteten Haupteingang und mustern den Wagenpark. Es gibt drei verschiedene Arten konventioneller Einkaufswagen, für den kleinen, den mittleren und den Großeinkauf, zum Abkoppeln mit einer Mark. Für Mütter mit Kindern steht ein Einkaufswagen bereit, der in seiner Hauptsache aus einem eiförmigen Plastikauto mit integriertem Einkaufskorb besteht. Das Gerät wird, wie gehabt, von der Mutter geschoben, während der Sprössling unten hinter geschlossenen Türen am Lenkrad sitzen kann. Und dann gibt es, neben mechanisch zu betreibenden Rollstühlen, die Elektrofahrzeuge, je nach Wahl, für die gehbehinderten oder gebrechlichen Kunden. Frédéric entscheidet sich für das erstbeste Elektrocar. Gegen seinen Schwerbehindertenausweis als Pfand – es hätte aber auch seine Armbanduhr sein können – erhält er den Zündschlüssel und einen schwarz uniformierten Security-Mann mit Baskenmütze und Sprechfunkgerat, der ihm die Handhabung des Fahrzeuges ausführlich demonstriert und erläutert, aber vergisst, den Stecker hinten rauszuziehen, so dass ein Losfahren erst mal misslingt. Das Wichtigste jedenfalls scheint zu sein, dass nach dem Zünden der Ladeanzeiger der Batterie ordentlich aufleuchtet. Sobald dann der gut gepolsterte Kunstledersitz belastet wird, kann, mit Hilfe des Lenkers, im Vor- oder Rückwärtsgang sowohl beschleunigt als auch gesteuert werden. Frédéric nimmt Platz, aber es tut sich nichts. Enttäuschung und Ärger breiten sich in seinem Gesicht aus, er behauptet, der Sitz müsse mit einem Mindestgewicht belastet werden, sonst fahre das Gerät nicht los, er selbst sei anscheinend zu leicht. Er spannt alle Muskeln an, um sich schwer zu machen, vergeblich. Doch nachdem der Daumen des Sicherheitsmannes einen Knopf mit Vorwärtspfeil berührt hat, fährt Frédéric in elegantem Bogen und ohne abzubremsen auf die Schranken zu, die sich im letzten Moment, wie von Geisterhand bewegt, vor ihm öffnen und hinter ihm schließen. Er ruft: „Mon Dieu!“, biegt nach links ein, winkt mir zu und fährt mit einem „Adieu, portez-vous bien!“ lächelnd davon.

Ich streife durch die gewaltige Leichtbauhalle mit Oberlicht, vorbei an vier- bis sechsstöckigen Regalen, in denen die Waren sowohl gelagert als auch ausgestellt werden. Hier können Bedürfnisse an der Wurzel befriedigt werden. Unglaublich, worin hierzulande allein die Klobürste ruht. Sanitäre Kunstwerke aus Porzellan, Chrom und Acryl umschließen auf Wunsch schneeweiße Bürsten, denen man nie und nimmer ansieht, dass sie je was mit Kot zu tun haben könnten. Klodeckel mit dem Bild galoppierender Pferde oder heranschleichender Löwen werden spätere Archäologen vollends ratlos machen. Der freie Bürger kann aus hunderterlei Hähnen sein Wasser in Bad und Küche fließen lassen, vom preiswerten „Einhebelmischer für den Waschtisch“ bis zum sündteuren klassischen Wasserhahn mit Warm-kalt-Aufschrift, wie er einst selbstverständlicher Standard jeder herrschaftlichen Wohnung war, ist alles zu haben. Phänomenal ist auch die Vielzahl der Duschkabinen, bei denen Platz sparende Eckduschen die beliebtesten zu sein scheinen. Sie sehen aus wie frisch benutzt, sogar die herabrinnenden Wassertropfen sind in die leicht beschlagen wirkenden Glas- oder Kunststofftüren eingearbeitet. Überhaupt ist hier fast alles auf eine einschüchternde Weise fertig. Der Kunde verliert die Fassung, wenn ihm klar wird, dass sein Zuhause in keinerlei Hinsicht mehr vorzeigbar ist – und er findet sie wieder in der Heimwerkerabteilung. Aber damit ist es ja nicht getan, dass man sich auf das ortsüblich moderne Niveau hochrüstet, denn schon morgen werden die hellebardenartigen Gardinenstangen, Eisenmöbel, Lichtelemente, Marmorböden ein peinlicher, aus der Mode gekommener Müll sein. Noch aber wiegen sich die Kunden in der Hoffnung auf mehr Lebensqualität, erfreuen sich am Probesitzen in Korbstühlen und Gartenschaukeln, zeigen skeptisch auf die Gartenmöbel-Sitzgruppe aus Teakholz, geölt, vier Stühle und ein Tisch mit Zertifikat darüber, dass das Holz nicht im Raubbauverfahren aus dem Urwald entwendet wurde. Das alles für 699 Mark.

In der Abteilung für Heimtierbedarf kehrt die attrappenhafte Ausstaffierung der menschlichen Behausungen in grotesken Miniaturisierungen wieder. Nagernäpfe, Nagertränke, ein Hamsterlabyrinth aus Holz. Ein Kleintierheim mit Tragegriff gibt es bereits für 5,95, für anspruchsvolleres Wohnen hingegen „a comfortable home for fish and reptiles. Non toxic!“ in Form von Burgen und Ruinen. Als Zubehör fürs Aquarium wird, etwa eine Spanne lang, das auseinander gebrochene Wrack der Titanic angeboten, für nur 14 Mark 95. Es gibt Katzenfernhaltezerstäuber, Zahnbürsten für Hunde und Katzen gegen „BAD BREATH“, „Shampoon und Cremespülung, für alle Fellfarben“ sowie ein Seniorenfutter für Hunde ab acht Jahren. Was man mit „Tubifex Linzelwürmern, Gefriergetrocknet“ macht, erklärt der aufmerksame Verkäufer gern, man verfüttert sie als „Leckerbissen zwischendurch“ an alle Zierfische. Diese schwimmen, bis auf Abruf, zwischen kristallklaren Aquariumwänden hin und her. Größere Fische warten in vollkommen unmöblierten Containern im sprudelnden Wasser auf Erlösung. Fingerlange Goldfische gibt es für 2,95, Bitterlinge für 3,95 und wer gehobenen Geschmack und Einkommen hat, kann Koi-Karpfen für 149,95 das Stück erwerben.

Ich treffe Elisabeth in der Gartenabteilung, rätselnd über einem Damenspaten. Frédéric finde ich wenig später, auf einem Kunstrasen stehend und ins Gespräch vertieft mit einer Verkäuferin. Sein Fahrzeug hat er vor dem Stand abgestellt. Die ältere, mütterliche Frau hat offenbar den Eindruck, sie habe es mit einem leicht zu beeindruckenden Kunden und Gartenbesitzer zu tun, der ein ernsthaftes Problem mit seinem Rasen von mindestens 500 Quadratmetern hat. Eindringlich empfiehlt sie ihm den Rasensamen „Supra“, ja, er sei auch für schattige Lagen geeignet und extrem belastbar. Und darauf, so sagt der Kirchenmaler, komme es ihm ganz besonders an. „Dann ist das für sie genau das Richtige“, sagt die Frau und setzt ein glaubhaft erfreutes Lächeln auf, das der Kunde dankend quittiert. „Der verdrängt sogar Unkräuter und Moose“, fügt die Frau hinzu, „auf dem können sie rumtrampeln, so fest sie wollen, mit der ganzen Familie, das hält er aus, und ein weiterer Vorteil ist, dass durch die Kürze der Gräser nur eine geringe Schnittmenge anfällt.“ Frédéric macht ein Gesicht, als sei er überzeugt und zum Kauf entschlossen, deshalb wird ihm sogleich noch ein weiteres hochpraktisches Gerät auf dem giftgrünen Plastikrasen vorgeführt: der „Streuwagen PERFEKT“, in den das Saatgut eingefüllt und „optimal ausgebracht“ werden kann. Frédéric ist hingerissen und echt gerührt von so viel fürsorglichem Mitdenken und Respekt, was einem Armen ja gewöhnlicherweise sehr abgeht. Er packt sorgsam die Prospekte ein und sagt, angesichts seines Fahrzeugs gutgelaunt: „O, mon Cabriolet!“, steigt ein, fährt neben mir her im Schritttempo und lächelt abgründig in sich hinein. Sein Garten besteht aus einigen winzigen staubigen Karrees in einem Weddinger Hinterhof, ich habe ihn gesehen. Der Kirchenmaler geht täglich mit seiner Katze hinunter in den Hof – ich glaube, nachmittags fällt etwas Sonne ins Geviert –, bleibt dort eine Weile und pflegt die von ihm eingesetzten Pflanzen hingebungsvoll. „Was ich brauche“, sagt Frédéric ernsthaft, „ist so eine ... wie sagt man, eine Dusche, die ich am Schlauch anschließen kann, für die Wurzeln unten, von den Rosenstöcken, die sind nämlich sehr empfindlich. Ich will ja nicht, dass die kaputtgehen. Wisset Sie, ich will es mal so sagen, und das ist wahr, die Leute im Haus verwundern sich nämlich schon, wenn sie über den Hof gehen und ich mit meiner Katze da sitze, über die ganzen Pflanzen, die ich eingesetzt habe. Sie sehen meinen Garten und bewundern mich, für das, was ich da geschaffen habe aus Schutt und Dreck. Die ganzen Blumen, die da jetzt sind, die ganzen Farnkräuter und Fetthennen und alles, das ist schon ein richtiger Garten, aber ganz besonders gern habe ich meine Rosenstöcke, die ich gekauft habe von meinem Krankengeld. Für die werde ich richtiggehend beneidet. Da ist sogar einer im Haus, der wollte das unbedingt auch so haben und hat, hintenraus auf der anderen Hausseite, auch angefangen einen Garten zu machen. Genau wie ich. Der hat auch Rosenstöcke gekauft und eingepflanzt, aber, was soll ich dir sagen, du wirst lachen, dem ist alles eingegangen! Und wie meine Rosenstöcke jetzt ganz verblüht waren, da hab ich kurz vorher, um den zu ärgern, noch Rosen extra drangemacht, in den richtigen Farben. Künstliche Rosen, aber die musst du mal sehen! Die sind wie echt. Keiner im Haus hat was gemerkt, seither höre ich noch mehr Lob von den Leuten. Alle fragen sie, wie ich das nur mache.“ Er lacht heftig, das Lachen geht in rasselndes Husten über. Die gläsernen Automatiktüren öffnen sich lautlos und wir gelangen hinaus in den Freilandteil der Gartenabteilung. Frédéric will hier zu Fuß gehen und alles betrachten, im Rosengarten, im japanischen Garten, in Themengarten und Nadelgehölz. Ich probiere derweil das Elektrofahrzeug zu fahren. Es ist vergnüglich, wenn man nicht muss, und außerdem wirkt die Warenwelt, von einem beflissen dahinsurrenden Wägelchen aus betrachtet, noch rätselhafter.

Ich gleite vorbei an großen, bauchigen, dickwandigen Terrakottatöpfen aus Südostasien und Italien, am Kopf von Michelangelos David, an Löwentatzen zur Stützung von großen Amphoren, an Diskuswerfern, antiken Badenden, an Rokokogartenfiguren aus Gips und Kunststein. Es gibt ein acht Meter hohes Bambuswäldchen für 2.000 Mark, einen hundert Jahre alten Weinstock für 1.000 Mark, dessen dunkle Trauben von den Kunden im Vorbeigehen abgerissen und gegessen werden. Grob behauene Steinbrücken führen über künstliche Wasserläufe. Zwischen von allen Geistern verlassenen Pagoden sitzt ein lebensgroßer Buddha aus Granit, mit einem abgebrühten Lächeln im Gesicht. Farne und Palmen rascheln im Wind. All die gestutzten Lorbeerbäume, Skulpturen, Brunnen, Hecken, Sträucher und blühenden Pflanzen fügen sich zur dekorativen Einheit eines vorgetäuschten Ganzen zusammen. Das Arrangement scheint nobel und zierlich die Wege der Spaziergänger zu flankieren, dabei ist es ja umgekehrt. Der auf ewig unemanzipierte Bürger und Kunde will leben wie Gott in Frankreich, will sich in Prunk und Kitsch ergehen. Aber für das genussvolle Herumschlendern in Luxus und Überfluss – einst Privileg eines feudalen Lebens ohne Arbeit – wird nicht viel Zeit und Muße bleiben. Jeder Quadratzentimeter Zierrasen und die unaufhörliche Mehrung des Besitzes müssen erarbeitet werden. Das macht einsam und verlangt nach Trost. Dafür bieten sich eine Vielzahl von Schnecken, Gänsen und Enten aus Keramik oder Kunststoff an, die, zusammen mit bekleideten Mäusen, grinsenden Steinpilzen, künstlichem Treibholz, Obst und Gemüse auf Plateauschuhen und einer Unzahl ähnlicher Kreationen, eine ländlich-gemütliche Häuslichkeit simulieren sollen. Der Alptraum für den größeren Geldbeutel wäre dann eine Gänseliesel, 115 Kilo schwer, „in zwei Teilen gegossen, die Gänse werden werksseitig angesetzt“, oder auch ein sich aufbäumendes Pferd, 1,20 Meter hoch, 200 Kilo schwer. In der etwas profaneren Ecke, bei den Gartenzwergen und künstlichen Blumen, sehe ich Frédéric wieder und wir begeben uns zum haushohen beleuchteten Wasserfall, vor dem er sich für ein Erinnerungsfoto lächelnd postiert.

Wie verabredet, treffen wir uns vor der „Klangwand“ vis-à-vis vom Bistro. Frédéric drückt nacheinander die Knöpfe für die sechzigsekündige Hörprobe. Elisabeth liest vor: „TOURNEY WITH WHALES, RAIN FOREST, CELTIC AWEKENING, MOZART FOREVER BY THE SEA. Einzigartige Tier- und Naturgeräusche, Klangerlebnis Natur pur, auf Kassette und CD.“ Aus den Lautsprechern schallen Meeresbrandung und Gewitterstürme und die Lock-, Warn- und Klagerufe wilder Tiere, unterlegt mit einem an- und abschwellenden Elektrosound, der die Ergriffenheit des Kunden pathetisch vorwegnimmt, unter dem Vorwand, sie zu stimulieren. Das Geklapper von Geschirr und Besteck aus dem Bistro mildert die Scheußlichkeit ein wenig. Wir entscheiden uns für das Tagesmenü, „Gefüllte Kalbsbrust mit Prinzessböhnchen, dazu eine Backkartoffel mit Kräuterbutter“. Der als Koch verkleidete Verkäufer schneidet zur Freude von Frédéric zwei Finger dicke Scheiben vom Braten ab und legt großzügig auf, als wüsste er insgeheim vom Geburtstag. Das Essen kostet ganze acht Mark pro Person. Es schmeckt nicht einmal schlecht. Frédéric verfällt zusehends, isst aber mit gutem Appetit. Ab und zu wischt er sich mit tapferem Lächeln den Schweiß von der Stirn: „Also ihr, ich sag euch was, dieser Laden hier, der bringt mich fast um! Heute Morgen war ich ja noch begeistert, aber jetzt ... Wie ich die Musik da gehört hab, das hat mich an was erinnert. Ich hab mal einen Film gesehen, ich weiß jetzt nicht den Titel und nichts, aber wie ich das salemals gesehen hab, hat sich bei mir eine Szene eingeprägt, wo die Leute sich hingelegt haben zum Sterben, in einem schönen Raum voller Blumen. Das war freiwillig. Für Alte und Kranke. Vor ihnen auf einer Leinwand zeigten sie schöne Filmaufnahmen von Landschaften und dazu spielte genau so eine Musik. Damit haben sie beim Sterben nachgeholfen, die Leute sollten friedlich einschlafen. Und hinten, in einem Nebengebäude, wurden die Verstorbenen gleich weiterverarbeitet zu Keksen.“ Er trinkt seinen Kaffee, zündet sich ein Zigarillo an und sagt nachdenklich: „Und das ganze Zeugs hier. Das muss doch mal eine Grenze haben, es muss doch mal aufhören? Aber es geht immer weiter und weiter. Nur, wer soll das alles kaufen? Wo soll das alles hin?“ Frédéric spricht aus bitterer Erfahrung. Er lebt in einer Wohnung, die im wahrsten Sinne des Wortes randvoll ist. „Das kann mir kein Mensch erklären, was sie mit dem Zeug machen, wenn sie es nicht loswerden. Also, ich hab gar nichts gekauft. Lieber spar ich mir das Geld für was anderes auf. Ich brauche gar nichts. Das hab ich heut gesehen.“ Er gähnt verhalten und wir brechen auf: „AUF VORSCHLAG EINES KUNDEN STEHT IHNEN DIESER MÜLLEIMER JETZT HIER ZUR VERFÜGUNG – ALLES IN OBI!“