■ Hans Eichels Sparpolitik pur ist nicht nur sozial unausgewogen – sie birgt auch Gefahren für die wirtschaftliche Entwicklung
: „Das ist blinder Aktionismus“

Die Steuerquote ist in Deutschland, verglichen mit anderen Ländern, sehr niedrig

taz: Herr Flassbeck, was macht ein Staatssekretär im Ruhestand?

Heiner Flassbeck: Man reist um die Welt, hält Vorträge, sieht sich um und redet mit Kollegen in anderen Ländern.

Was haben Sie dabei gelernt?

Ich habe bestätigt gefunden, dass nirgendwo, nicht in den USA und nicht einmal in Großbritannien, eine so rigorose Angebotspolitik verfolgt wird wie jetzt in Deutschland. Verbal wie auch in den Taten gibt es hier eine Radikalisierung, die mir unbegreiflich ist.

Woran liegt das?

Zunächst sicher daran, dass Deutschland wieder einmal versucht, alles besser zu machen als alle anderen. Zum anderen gibt es bis zur Staatssekretärsebene in der Regierung keinen einzigen gesamtwirtschaftlich denkenden Ökonomen. In der Folge setzt sich einzelwirtschaftliches Denken durch, das nun mal leichter zu begreifen ist als gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge. Wenn man sagt, es ist beim Staat kein Geld da, meint jeder zu wissen, jetzt müsse gespart werden. Niemand hinterfragt den volkswirtschaftlichen Kontext: Welcher Sektor verschuldet sich anstelle des Staates? Welche gesamtwirtschaftliche Entwicklung ergibt sich daraus, und was kommt dann wieder auf den Staat bei den Einnahmen zu?

Für 1999 sagen die Experten ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 1,5 Prozent voraus. Was müsste man daraus nun für Konsequenzen ziehen?

Vor allem die Konsequenz, dass wir durch eigenes Verschulden wieder zwei Jahre im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verloren haben, frühestens im Laufe von 2000 wird es wieder zu einem deutlichen Anstieg der Beschäftigung kommen. Die Arbeitslosigkeit, vor allem in Ostdeutschland, steigt sogar seit ein paar Monaten wieder. Zudem wird das Aufholen Ostdeutschlands fundamental in Frage gestellt. Aber darüber reden wir ja nicht mehr. Ostdeutschland wird noch 20 Jahre oder mehr viel Geld kosten – mindestens in einer Größenordnung von 150 Milliarden Mark jährlich. Es ist ein fataler Irrtum zu glauben, das ließe sich finanzieren, ohne dass man bei den Steuersenkungsplänen Abstriche machen muss. Wer die Steuern jetzt noch weiter senkt, ändert den Charakter dieser Gesellschaft fundamental, weil er die deutsche Einigung zum größten Teil von den Schwächsten der Gesellschaft finanzieren lässt, ohne über eine gesamtgesellschaftliche Solidarität überhaupt noch zu reden. Ich habe noch nicht einmal gehört, dass Hans Eichel gesagt hat, wer die deutsche Einigung zukünftig finanzieren soll.

Eichel hat immerhin ein großes Sparpaket vorgelegt, das so genannte Zukunftsprogramm.

So heißen diese Programme ja immer. Unter jeder Regierung. Zukunftsprogramm, Wachstumsprogramm, Beschäftigungsprogramm. Und so machen wir jetzt weiter – mit einem Programm, das keinerlei Beziehung zum Aufbau Ost hat. Ich kann doch unter den Bedingungen der deutschen Vereinigung nicht sagen, ich spare auf Teufel komm raus. Das ist blinder Aktionismus: Eichel tut so, als könne und müsse man gerade jetzt im Hauruckverfahren die Haushalte sanieren, und lenkt damit von viel wichtigeren Problemen ab. Es gibt überhaupt keinen Grund, mit hohem Risiko für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung die Verschuldung bei weiterer Steuerentlastung in kürzester Zeit so weit zurückzufahren, wie Eichel das vorhat. Nach den Maastricht-Kriterien sind 60 Prozent Schuldenstand vollkommen in Ordnung. Und im vergangenen Jahr hatten wir 61,3, der Durchschnitt der 11 Euroländer lag bei 73 Prozent.

Höhere Kreditaufnahmen hätte es aber auch mit Lafontaine und Flassbeck nicht gegeben.

Nein. Wir wollten die Neuverschuldung auch absenken. Aber langsamer und mit einem gesamtwirtschaftlichen Ansatz: Wir haben auf mehr Wachstum und einen Abbau der Arbeitslosigkeit gesetzt. Wenn die Wachstumsrate größer ist als der Zuwachs der Neuverschuldung, sinkt die Verschuldung im Verhältnis zum Sozialprodukt – und das ist das einzig relevante Maß.

Wie würden Sie denn die Wirtschaft ankurbeln?

Das sollte in erster Linie die Geldpolitik tun, also die Europäische Zentralbank. Sie hat ja auch kurz nach Lafontaines Rücktritt die Zinsen gesenkt. Das war richtig und wichtig, weil Europa insgesamt eine deutliche Wachstumsverlangsamung zu verzeichnen hatte. Aber sie hat zu lange gewartet, und es ist zu befürchten, dass sie in restriktiver Richtung viel zu früh reagiert. Die Europäische Zentralbank meint ja, keine wirtschaftspolitische Rolle spielen zu dürfen, während es in den USA – nach Meinung fast aller internationaler Beobachter – vor allem die Geldpolitik Alan Greenspans war, die dafür gesorgt hat, dass in den 90ern ein enormes Wachstum ohne Inflation möglich war. Wenn wir in Europa keine ähnliche Geldpolitik bekommen, hat Europa sowieso keine Chance.

Die Bundesregierung hofft aber doch darauf, die Wirtschaft mit Hilfe der Finanzpolitik zu stimulieren.

Sie tut das Gegenteil. Die Finanzpolitik spielt jedoch in Europa insgesamt keine entscheidende Rolle. Sie sollte aber insbesondere in Deutschland mit seiner schwachen Binnennachfrage auf keinen Fall destabilisierend wirken. Nehmen wir doch mal an, die Wachstumsprognosen, auf die sich Eichel jetzt verlässt, stimmen nicht, und es kommt ganz anders. Was will er dann machen?

Noch mehr sparen.

Ja, genau. Schließlich kann er, wenn er 1999 bei 1,5 Prozent Wachstum schon gespart hat, nicht 2000, wenn es vielleicht wieder nur 1,5 Prozent gibt, im Ernst sagen, jetzt lassen wir die Defizite ansteigen. Er wird das Gegenteil tun und noch mehr sparen. Und diese Logik führt dann dazu, dass man wirklich die wirtschaftliche Entwicklung destabilisiert.

Was wäre besser?

Eine ausgewogene Mischung aus Angebots- und Nachfragepolitik, wie sie Rot-Grün bei der Wahl noch versprochen hat. Das haben wir noch im Januar in den Jahreswirtschaftsbericht geschrieben. Aber die politischen Bedingungen dafür waren schon damals extrem schlecht. Niemand kann Konzepte entwickeln und durchsetzen, wenn er dauernd fürchten muss, dass ihm jemand in den Rücken fällt.

Was heißt „ausgewogene Mischung“ am Beispiel Steuerreform?

Wenn das Verfassungsgericht bei einer schon extrem niedrigen Steuerquote der Politik aufgibt, die Familien um 20 Milliarden Mark zu entlasten, dann ist für mich als Finanzpolitiker die logische Folgerung: Gut, dann muss ich die Steuern für alle so weit erhöhen, dass die Entlastung der Familien finanziert werden kann.

20 Milliarden für die Familien plus Aufbau Ost – wie will man da Steuern senken?

Das ist aber nicht populär. Die Regierung hat im Gegenteil Steuersenkungen versprochen.

Das kann man seriöserweise nur tun, wenn man genug Dumme und/oder Schwache hat, die das finanzieren. Das ist das Programm, das gerade läuft. Wenn es so wäre, wie Bundeswirtschaftsminister Müller sagt, dass wir „eine Anspruchsinflation an den Staat“ hätten, eine – ohne Vereinigung – extrem hohe Ausgabenquote und einen extrem hohen Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt, dann wäre das gerechtfertigt.

Aber wir haben heute eine historisch wie im internationalen Vergleich unglaublich niedrige Steuerquote von 20,8 Prozent, das sind 2 Prozent weniger als 1990. Das liegt vor allem daran, dass die Steuern auf Unternehmens- und Kapitaleinkommen seit 1980 massiv gesenkt wurden. Und was war die Folge? Nicht der Investitionsboom, sondern die geringste Investitionsdynamik, die es jemals während einer Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft gegeben hat.

Warum also sollen heute niedrigere Unternehmenssteuern das Ei des Kolumbus sein? Dass Steuersenkung so einfach nicht wirkt, ist ja auch klar: Wenn die Arbeitslosen und Rentner, bei denen im Gegenzug gespart wird, weniger konsumieren, vermindert das die Gewinne der Unternehmen, und die investieren dann nicht mehr als ohne Steuersenkung. So weit zu denken, muss man der Wirtschaftspolitik abverlangen. Geschieht das nicht, haben wir einen dauernden Kampf um Steuersenkungen, haben bei den Leistungsfähigen null Solidarität mit Ostdeutschland und eine Dauerbelastung für den Staat, weil wir diese Solidarität nur denen abverlangen, die keine starke Interessenvertretung haben.

Hand aufs Herz: Würden Sie da gerne noch mal mitmischen?

Nein. Da nicht. Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, noch einmal Politik zu machen.

Interview: Beate Willms