■ Nebensachen aus Peking
: Der Aufmarsch der Gespenster

Wer alt genug ist, die Kulturrevolution miterlebt zu haben, dem muss wie in einer Gespensternacht zumute sein. Dieser Samstag ist ein verrückter Abend in Peking. Der Vollmond scheint hell auf die Straße des Ewigen Friedens und auf einmal, Punkt Mitternacht, ist die riesige Prachtallee voller Menschen. Sie tragen Jogginghosen und weiße Hemden, manche haben sich Glitzerschlangen und Federbüschel umgehängt. Sie alle gehen auf das Tor des Himmlischen Friedens zu. Dort hat vor fünfzig Jahren Mao Tse-tung auf dem Balkon gestanden, um die Republik auszurufen, und später nahm er dort die großen Herbstparaden ab, die sich schließlich während der Zeit der Kulturrevolution zum Massendelirium steigern sollten.

Jetzt also, nach fünfzehn Jahren, während deren man ohne große Staatsfeiern auskam, lässt die Partei wieder aufmarschieren. Was wir erleben, ist die Generalprobe für den Volksaufmarsch anlässlich des fünfzigsten Geburtstags der Republik am 1. Oktober. Die Militärs hatten bereits vor zwei Wochen ihre nächtliche Zeremonieübung.

Nun sind es überwiegend Schüler und Studenten, die in laut schnatternden Pulks alle Zugänge zur breiten Changan-Straße versperren, bevor die Polizei sie auf das Pflaster winkt, über das zuletzt während der Studentenrevolte vor zehn Jahren so viele gelaufen sind. Heute will die Partei die symbolische Mitte des Landes zurückerobern.

Lustige Truppen hat man dafür ausgewählt. Die jungen Massendarsteller machen nicht den Eindruck, für eine Militärparade zu proben. In der fröhlichen Menge scheitern die meisten Versuche, gerade Reihen zu bilden. Durch die Anweisungen des Lautsprechers dringt das Gelächter der Darsteller. Von weitem allerdings sieht alles so aus wie früher. Denn es sind auf den ersten Blick Unzählige, die dort laufen, und genau das ist der Eindruck, mit dem China schon immer bestochen hat: Die Masse Mensch ist in diesem Land grenzenlos.

Eine Stunde währt der ganze Aufmarsch. Am Ende hat sich die Menge schnell wieder aufgelöst und in die Gassen verteilt. Man versteht jetzt langsam, wie die Partei den großen Geburtstag plant: vor allem als Fernsehereignis.

Nur einmal muss die Changan-Straße voller Menschen sein, das reicht dann, um die Szene tausendmal auf dem kleinen Bildschirm zu wiederholen. Während der Kulturrevolution währten die Massenumzüge dagegen zwölf Stunden. Und die Jugendlichen waren damals begeistert bei der Sache. So etwas aber kann die Partei heute nicht mehr aufbieten. Und das darf ja durchaus als beruhigend gelten. Georg Blume