■  Die milliardenschweren Veruntreuungsvorwürfe gegen die russische Regierung bedeuten eine Zäsur in den russisch-westlichen Beziehungen. Die USA und Europa sind längst dabei, sich neue Verbündete zu suchen
: Das Ende einer Freundschaft

Natürlich gab es in den letzten Tagen Dementis. Dementis der „Familie“, wie der russische Volksmund den engsten Kreis von Verwandten und Mitarbeitern um Präsident Boris Jelzin nennt.

Dementiert wurde, dass die beiden Töchter Jelzins während eines Ungarnaufenthaltes tausende von Dollars von einem Konto der Schweizer Firma Mabetex abgehoben hätten. Verwunderung erregte in den gleichen Kreisen die Nachricht, die Bank von New York habe Dollar-Milliarden für russische Kriminelle gewaschen, von denen einige enge Beziehungen zur Administration von Präsident Jelzin zu unterhalten scheinen.

Dies alles stritten die Kreise um den russischen Präsidenten schlichtweg ab. Für erklärungsbedürftig hielten sie lediglich eine Frage: Weshalb nur hat es die internationale Presse darauf abgesehen, uns alle anzuschwärzen? Wo stecken die Übeltäter?

Boris Beresowski, Günstling von Jelzin-Tochter Tatjana Djatschenko, kaufte kürzlich die professionellste russische Tageszeitung Kommeresant. In deren Samstagsausgabe erklärt in einem Interview Russlands Presse- und Informationsminister Wladimir Lesin, die Anschuldigungen der ausländischen Presse gingen ausschließlich auf Jelzin-feindliche russische Quellen zurück. Aber, so erklärt Lesin: „Gegen jedes Kompromat gibt es ein Gegen-Kompromat“. Auf Deutsch: Über jeden, der gegen dich kompromittierendes Material ins Feld führt, kannst du auch irgendetwas Komromittierendes ausgraben und publizieren. Drohend schließt Lesin: Die Administration des Präsidenten könne sich noch mit anderen Mitteln wehren als bloßen Erklärungen.

Zurück zur Frage nach den „Denunzianten“. Wenig Zweifel bestehen da bei den Veröffentlichungen über die Sperrung von Beresowskis Schweizer Konten und den Aktivitäten der der Aeroflot nahe stehenden Firman Andava und Forus im Schweizer Nachrichtenmagazin Facts und im italienischen Corriere della Sera.

Deren Informationen kommen zweifellos aus informierten Quellen der Schweizer und russischen Staatsanwaltschaft. Es war der Corriere della Sera, der am Freitag die sensationelle Information brachte, zwischen dem Skandal in der New-York-Bank und dem von Del Ponte entfesselten Skandal um die angeblichen Schmiergelder der Schweizer Firma Mabetex für hoch gestellte Kreml-Beamte bestehe eine Verbindung.

Diese Verbindung könnte nur politischer Natur sein. Die Informationen diverser US-Zeitungen über die Connections der russischen Mafia in nordamerikanischen Banken können nur aus US-Geheimdienst-Quellen stammen. Schon seit einem Jahr hat zum Beispiel die Bank of New York zugelassen, dass die Geldströme über ihre Konten geheimdienstlich verfolgt wurden.

Warum also erfolgte die Indiskretion gerade letzte Woche, parallel zu den Veröffentlichungen in Facts und Corriere della Sera? Eine mögliche Erklärung ist, dass sie innenpolitische Gründe hat.

Der republikanische Präsidentschaftskandidat Steve Forbes machte am Donnerstag den Vizepräsidenten Al Gore für den letzten russischen Skandal mitverantwortlich. Forbes will die russische Wirtschaftkrise nun zu einem Dauerthema seiner Wahlkampfkampagne machen.

Forbes wirft Gore vor, er hätte wichtige Warnsignale aus Russland übersehen: „Schon lange hat es in den Zeitungen gestanden, dass Millionen von Russen ihre Gehälter nicht ausgezahlt bekommen; es war schon längst bekannt, dass Milliarden herausgepumpt werden“, sagte der Republikaner. „Das ist nichts Neues, und dennoch schaufeln sie weiterhin Milliarden von IWF-Geldern einer Regierung zu, die diese missbraucht.“

Eine andere Erklärung betrifft die gemeinsame Politik aller westlichen Länder gegenüber den jeweiligen russischen Regierungen. Ihr zufolge haben die westlichen Länder jetzt einfach einige Schutzwälle eingerissen, die bisher die internationalen „Schwachstellen“ von „Freund Boris“ vor der Preisgabe in der Öffentlichkeit schützten.

Während der Stern von „Freund Boris“ sinkt, muss sich der Westen nun neue politische Verbündete in Russland suchen. Einen Hinweis darauf, wer dies sein könnte, liefert das Verhalten von Michail Sadornow. Der gegenwärtige russischen Unterhändlers beim Internationalen Währungsfonds (IWF) tauchte in der vergangenen Woche überraschend auf dem Kongress der liberaldemokratischen Partei Jabloko auf und erregte damit in Russland allgemeine Aufmerksamkeit.

Sadornow war 1997 aus der Partei ausgetreten, um einen Regierungsposten anzunehmen. Nun zeigt er Bereitschaft, seinen Kreml-Posten aufzugeben, um in seine politische Heimat zurückzukehren. Jabloko-Führer Grigori Jawlinski kann Umfragen zufolge auf die Stimmen von 7 Prozent der Bevölkerung zählen. Woher nimmt er zur Zeit die Gewissheit, um zu verkünden: „Unsere Partei ist bereit, unser Land ins nächste Jahrhundert zu führen“?

Wie und mit welchen Versprechungen hat er den inzwischen mindestens ebenso beliebten Ex-Premier Sergej Stepaschin überredet, sich Jabloko anzuschließen? Und warum wurde gegen Jabloko – als einzige von allen russischen Parteien – bisher kein Quentchen „Kompromat“ zutage gefördert? Es heißt in Moskau, weil Jabloko bereits zu den neuen Verbündeten gehöre, verfüge sie in den USA bereits über mächtige Sponsoren.

Selbst wenn die westlichen Politiker dies alles nicht, wie beschrieben, geplant haben sollten – nach den milliardenschweren Veruntreungsvorwürfen gegen die „Familie Jelzin“ müssen die Politiker in den USA und Europa in Russland neue Alliierte suchen.

Dies bedeutete ein Ende der jahrzehntelangen Politik des Westens. In der alten Sowjetunion wie auch im neuen Russland hatten die USA und Europa es ausschließlich mit jenen gehalten, die gerade an der Macht waren. Bisher auch in Situationen, in denen diese Macht nur noch einem seidenen Faden hing. Barbara Kerneck