Regenzeit im Jahr nach „Mitch“

Felder versinken im Schlamm, Häuser werden weggespült. Dörfer sind abgeschnitten. Statt vorzusorgen, gab die Regierung El Salvadors Hilfsgelder für den Stimmenkauf aus  ■   Aus San Salvador und San Francisco Menéndez Toni Keppeler

Bis zur Hüfte steht Roberto López in der schmutzigen braunen Brühe. „Keine Angst“, sagt er. „Das Haus ist aus Zementblöcken gebaut. Das fällt so schnell nicht zusammen.“ Der Hof ist ein großer See. Das Wasser reicht fast bis zum Fenster. Die Hängematten sind knapp unter der Decke aufgespannt: Wenigstens schlafen will er im Trockenen. Alles Hausgerät, das sich irgendwie befestigen lässt, ist an den Balken des Ziegeldaches aufgehängt. Die Truthähne haben sich auf den First gerettet. Es ist Regenzeit in El Salvador.

„Im vergangenen Jahr hat mir der Wirbelsturm ,Mitch‘ die gesamte Maisernte weggespült“, sagt López. „Auch die von diesem Jahr ist hinüber.“ Er greift hinab ins Wasser, holt einen Kolben herauf und bricht ihn auf. „Der wird verschimmeln“, sagt er. „Davon bleibt nichts Essbares übrig.“

Der August ist die Zeit der Maisernte in Zentralamerika. Die eine Hälfte hat López schon geerntet und im nun überschwemmten Haus gelagert. Die andere wurde, noch an den Stauden, von der braunen Flut überschwemmt. „Dort drüben liegt mein Maisfeld“, sagt er und zeigt auf eine große Wasserfläche. Vom Ertrag dieses Feldes wollten er und seine Familie in den nächsten Monaten leben. Und ein bisschen sollte auch noch übrig bleiben, um es auf dem Markt von Ahuachapan zu verkaufen.

Fast jeden Nachmittag schüttet es ein paar Stunden lang wie aus Kübeln. Das Bett des Rio Paz, in dem in der Trockenzeit nur ein armseliges Rinnsal fließt, kann die Wassermassen nicht mehr halten, die nun von den Bergen rund um Ahuachapan herunterschießen. Dort wird nur noch in den Hochlagen Kaffee angebaut. Weiter unten steht kaum noch ein Baum. Die einst üppige tropische Vegetation fiel in der Ebene dem Zuckerrohranbau und in den Hügeln den lokalen Möbelmanufakturen und den Brennholzsammlern zum Opfer. Nichts kann das Wasser in der Regenzeit mehr aufhalten. Es braucht gar keinen „Mitch“. Eine ganz normale Regenzeit genügt.

San Francisco Menéndez, das Dorf von Roberto López, und mit ihm fünf weitere Weiler rund um Cara Sucia im Süden der Provinz Ahuachapan stehen seit Tagen unter Wasser. Ein knappes Dutzend Häuser wurde weggeschwemmt. Aber es gab hier noch keine Toten. In jeder Regenzeit sterben Menschen in Zentralamerika. Es mögen fünfhundert sein oder auch tausend, niemand weiß das so genau. Wenn es nicht gleich tausende sind, wie Ende Oktober vergangenen Jahres, nimmt nur die lokale Presse in kleinen Meldungen davon Notiz. Niemand macht sich die Mühe, die Zahl dieser Toten am Ende zusammenzuzählen.

In El Salvador scheint es bislang die Armen der Hauptstadt am meisten getroffen zu haben. Bei jedem größeren Wolkenbruch stehen die Viertel entlang des Rio Acelhuate unter Wasser: Modelo, Candelaria, Montserrat. Dort, wo die billigen Puffs für die Fernfahrer und Händler sind und wo an jeder zweiten Straßenecke Crack verkauft wird. Immer, wenn sich der Himmel auftut, treffen sich dort die Fotografen der lokalen Blätter und machen die immer selben Bilder, die dann am nächsten Tag auf der Seite eins gedruckt werden: eine über dem Abgrund hängende Hütte, die vom Fluss längst unterspült worden ist. Ein demoliertes Taxi, das vom Sturzbach mitgenommen wurde und an einer Brücke zerschellte. Die Leiche eines kleinen Mädchens, die von Polizisten aus dem Wasser gezogen wird. Zwischen Mai und Oktober sind solche Vor-Ort-Termine für die Kollegen langweilige Routine. In der vergangenen Woche hat der Acelhuate vier Zimmer einer Absteige mitgenommen. In den verbliebenen Separees arbeiten die Frauen schon wieder. Was sollen sie auch sonst tun? Verhindern kann man nichts. Oder besser gesagt: Verhindert wird nichts.

Spätestens seit Ende Oktober vergangenen Jahres, als unter den Regenmassen des Wirbelsturms „Mitch“ in Zentralamerika mindestens zehntausend Menschen ums Leben kamen, wussten die Regierungen, dass etwas getan werden muss, wo es getan werden muss und was getan werden muss. Und sie hatten sogar mehr Zeit als erwartet. Die diesjährige Regenzeit begann erst im Juni, einen Monat später als üblich. Aber sie taten so gut wie nichts. In Honduras etwa, das damals am schwersten betroffene Land, gibt es noch immer Notunterkünfte in Schulen und Sporthallen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie stellt fest, dass erst etwa zehn Prozent dessen wieder aufgebaut wurde, was damals vernichtet wurde. Die Regierung unter dem neoliberalen Präsidenten Carlos Roberto Flores hat sich dabei auf die für die Exportwirtschaft wichtige Infrastruktur konzentriert. Die Zufahrtswege zu den großen Bananen- und Ölpalmenplantagen im Norden und zu den Wellblechhallen der Billiglohnindustrie sind längst wieder hergerichtet. Aber in der Hauptstadt Tegucigalpa wohnen die Armen längst wieder in schnell zusammengezimmerten Hütten an eben jenen Hängen, die „Mitch“ in den Rio Choluteca gespült hatte. Der Zivilschutz des Landes geht davon aus, dass in dieser Regenzeit im Hinterland mindestens 500 Dörfer von der Umwelt abgeschnitten werden, weil die Zufahrtswege immer noch genauso aussehen wie vor neun Monaten.

Auch im nicaraguanischen Posoltega am Fuß des Vulkans Casitas, wo 2.000 Menschen verschüttet wurden, hat sich in den vergangenen Monaten kaum etwas verändert. Diejenigen, die damals der großen Schlammlawine entkamen, leben zum Teil noch immer unter Plastikplanen am Straßenrand. Ihr Land am Vulkan ist heute unbrauchbar und erdrutschgefährdet. Eine Gruppe Verzweifelter hat in der Ebene ein Stück Brachland besetzt, das angeblich einem Großgrundbesitzer gehört. Aber wer weiß in Nicaragua schon so genau, was eigentlich wem gehört. Ein vernünftiges Katasteramt gibt es nicht. Sicher: Der Boden wurde einst von den Sandinisten enteignet. Aber wer war vorher der rechtmäßige Besitzer? In Nicaragua ist es einfach, mit ein bisschen Bestechungsgeld eine Besitzurkunde für alles Mögliche zu bekommen. Und in Posoltega ist der Fall doppelt kompliziert. Der Ort wird von einer sandinistischen Bürgermeisterin regiert und deshalb von der liberalen Regierung Arnoldo Alemans ignoriert. Die Landbesetzer sind ständig von Räumung bedroht.

El Salvador ist mit 250 „Mitch“-Toten einigermaßen glimpflich davon gekommen. Den materiellen Schaden hatte die Regierung auf rund zwei Milliarden Mark hochgerechnet. Diese Zahl wurde bei verschiedenen Geberkonferenzen präsentiert, und kürzlich gab die Regierung stolz bekannt, so viel Geld sei inzwischen auch als Kredit oder Schenkung zugesichert worden. Wie viel von dieser Summe schon ins Land gekommen ist, weiß niemand genau. Dafür weiß man neuerdings, was mit einem Teil des Hilfsfonds für „Mitch“-Geschädigte passiert ist. Kein Skandal beschäftigt derzeit die lokalen Medien so sehr wie der Stimmenkauf bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen März. Der damalige Präsident Armando Calderón Sol wollte, dass seine seit zehn Jahren regierende Arena für weitere fünf Jahre an der Macht bleibt. Doch die Rechtspartei war seit der Niederlage bei der Parlamentswahl 1997 angeschlagen. Die Wirtschaft stagnierte. Unruhen im Vorfeld der Wahl, dachte man, könnten den sicher geglaubten Sieg kosten. Und Unruhen sind von den Vereinigungen der ehemaligen Paramilitärs immer zu befürchten. Sie dienten während des Bürgerkriegs der achtziger Jahre der Armee mit Spitzel- und Wachdiensten und wurden auch als Todesschwadronen eingesetzt. Im Friedensvertrag von 1992 kommen sie nicht vor. Entlassene Soldaten und demobilisierte Guerilleros wurden mit Geld, Land oder Ausbildungsstipendien abgefunden. Die nutzlos gewordenen Paramilitärs gingen jedoch leer aus. In regelmäßigen Abständen fordern sie nun Abfindungen, Renten, Land und Kredite. Und weil sie von ihren ehemaligen Auftraggebern genauso regelmäßig hingehalten werden, arten ihre Protestmärsche stets in Straßenschlachten mit der Polizei aus. Solche Bilder wollte Calderón Sol seinem Parteifreund und Präsidentschaftskandidaten Francisco Flores ersparen. Also griff er in die „Mitch“-Kasse, holte umgerechnet rund zwei Millionen Mark heraus und ließ sie an Funktionäre der Vereinigungen ehemaliger Paramilitärs weiterreichen. Die verstanden das als Abschlagszahlung und wollen jetzt mehr. Mitte August kam es deshalb wieder zu Straßenschlachten mit zwei Toten und Dutzenden von Verletzten. Die ehemaligen Paramilitärs sahen sich an der Nase herumgeführt und enthüllten den Bestechungsskandal. Wenn sie und ihre Klientel für Arena stimmten und Flores gewänne, habe man ihnen versprochen, seien die zwei Millionen nur eine erste Anzahlung. Stimmenkauf in großem Stil. Mario Acosta Oertel, unter Calderón Sol wie unter Flores Innenminister, bestätigte den Deal. Die Regierung versucht sich nun damit herauszureden, dass auch die ehemaligen Paramilitärs von „Mitch“ betroffen gewesen seien. Doch die sagen klipp und klar: „Bei uns gibt es keine Geschädigten.“

Deutlich weniger als zwei Millionen Mark hätten ausgereicht, um die Maisernte von Roberto López trocken über die Regenzeit zu bringen. Im Ministerium für öffentliche Arbeiten weiß man, wie San Francisco Menéndez und die anderen Dörfer rund um Cara Sucia vor der diesjährigen Flut hätten verschont werden können. Man hat auch daran gedacht, etwas zu tun. Vor Wochen schon wurden schwere Baumaschinen in den Süden der Provinz Ahuachapan geschickt, um den Rio Paz mit einem Damm einzufrieden. Die Baumaschinen stehen noch immer dort. Aber ein Damm wurde nicht gebaut. Dem Wächter, der aufpasst, dass das Gerät nicht gestohlen wird, ist das recht. So lange die Maschinen nur herumstehen, hat er einen sicheren Arbeitsplatz. Sollte irgendwann mit dem Bau begonnen werden, ist das Ende seiner Beschäftigung abzusehen. Ob das aber einmal geschehen wird, weiß er nicht.