Persilschein für Ankaras politische Klasse

■ Die türkische Regierung verkündet großzügig eine Amnestie. Davon profitieren Politiker und mit ihnen verbandelte Mafiosi

Istanbul (taz) – „Die Amnestie“, versuchte Ministerpräsident Bülent Ecevit seine Kritiker zu beruhigen, „ist natürlich ein Kompromiss. Die Regierung besteht immerhin aus drei Parteien, und jede hatte andere Erwartungen.“ Doch die Erklärung half nichts. Die türkische Regierung, nach wie vor von den Folgen des Jahrhundertbebens von vor zwei Wochen erschüttert, sieht sich erneut mit einer heftigen öffentlichen Empörung konfrontiert.

Monatelang hatte man im türkischen Parlament in Ankara über eine generelle Amnestie diskutiert, war über Ausschließungskriterien, die Überfüllung der Gefängnisse und gesellschaftliche Versöhnung geredet worden. Doch was dann am Samstag herauskam, sprach allen Erwartungen Hohn. Das vom Parlament verabschiedete Amnestiegesetz – nicht zu verwechseln mit dem Reuegesetz für PKKler, das ebenfalls in der letzten Woche verabschiedet wurde – soll rund 27.000 der 70.000 türkischen Gefangenen die Freiheit bringen.

Ausgeschlossen sind aufgrund von Drogendelikten Verurteilte, Vergewaltiger, Brandstifter und – ein Zugeständnis an den Volkszorn der letzten Tage – kriminelle Bauunternehmer. Von vornherein ausgeschlossen waren jene etwa 11.000 Gefangenen, die wegen staatsfeindlicher Delikte oder auf Grundlage der Antiterrorgesetze verurteilt sind. Alle Personen, die nach dem berüchtigten Paragraphen 312, der die Meinungsfreiheit einschränkt, verurteilt wurden, bleiben ebenfalls im Gefängnis. 30 Journalisten, die freikommen sollen, erhalten eine dreijährige Bewährungsaufsicht, innerhalb deren sie nicht unliebsam auffallen dürfen.

Dafür haben die an der Regierung beteiligten Parteien dafür gesorgt, dass ihre spezielle Klientel und ihr eigenes Personal amnestiert werden. Vor allem die rechtsextreme Partei der Nationalen Bewegung (MHP) hat durchgesetzt, dass kein Mitglied der Grauen Wölfe, des militanten Armes der Partei, mehr belangt wird. Alle Morde und anderen Straftaten aus den Auseinandersetzungen Ende der Siebziger Jahre, als nationalistische Killerbanden der MHP durch die Straßen zogen, fallen unter die Amnestie.

Auch die im Zusammenhang mit dem sogenannten „Susurluk-Skandal“ Angeklagten – der Name steht für die staatlich sanktionierten Killergangs der Achtziger Jahre – werden amnestiert. Die wenigen wegen Folter verurteilten Polizisten kommen frei.

Die politische Kaste hat sich mit der Amnestie einen Freibrief ausgestellt. Der wegen Korruption angeklagte frühere Parlamentspräsident Kalemli, Mitglied der regierenden Mutterlandspartei (ANAP), geht straffrei aus, und ANAP-Chef Mesut Yilmaz, dessen Regierung Ende letzten Jahres wegen Korruptionsvorwürfen gestürzt wurde, hat sich natürlich auch selbst begnadigt.

Damit den Politikern auch wirklich nichts mehr passieren kann, hat man ihre Partner aus dem Gangstermilieu gleich mit amnestiert. Alaatin Cakici, einer der berüchtigtsten Mafiosi, der seit einem Jahr in Nizza im Gefängnis sitzt und eigentlich auf seine Auslieferung an die Türkei wartet, wird demnächst wieder seine Yacht besteigen können. Das Gleiche gilt auch für zahlreiche andere Gangsterbosse, die im Zwielicht von Staat und kriminellen Banden ihre Fäden gezogen haben. Jürgen Gottschlich